I. Einleitung

Bis zu der Aufgabe der Rechtsprechung durch das BAG im Jahr 2010 (BAG, Urt. v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068) galt über Jahrzehnte im Arbeitsrecht der Grundsatz "ein Betrieb – ein Tarif" (vgl. BAG, Urt. v. 29.3.1957 – 1 AZR 208/55, AP Nr. 4 zu § 4 TVG Tairfkonkurrenz). Mit diesem Prinzip der Tarifeinheit stellte die Rechtsprechung sicher, dass bei Kollisionen zweier oder mehrerer Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften grundsätzlich allein der speziellere Tarifvertrag, der dem Betrieb räumlich, fachlich und persönlich unter Berücksichtigung der gesamten Umstände am besten gerecht wurde, zur Anwendung kam. Damit sollten rechtssichere und klare Verhältnisse in einem Betrieb geschaffen und praktische Schwierigkeiten vermieden werden, die sich aus der Anwendung mehrerer Tarifverträge innerhalb eines Betriebs ergeben können.

Den Grundsatz der Tarifeinheit gab das BAG sodann in seiner Entscheidung vom 7.7.2010 (4 AZR 549/08, ZIP 2010, 1618 = NZA 2010, 1068) für den Fall der Tarifpluralität auf. Als Begründung führte es an, dass der Grundsatz weder auf eine gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtsgrundlage noch auf übergeordnete Prinzipien der Rechtssicherheit oder der Rechtsklarheit gestützt werden könne und einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG darstelle.

In der Konsequenz dieser Rechtsprechungsänderung konnten nachfolgend in einem Betrieb für dieselbe Beschäftigungsgruppe verschiedene Tarifverträge parallel nebeneinander, also gleichzeitig zur Anwendung kommen, was vor allem Berufs- oder Spartengewerkschaften, die einzelne Berufsgruppen vertreten, im Zuge von Neugründungen oder auch zunehmender und verstärkter Betätigung bereits bestehender Gewerkschaften stärkte. Zu nennen sind beispielsweise:

  • die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) der Fluglotsen, Vorfeldlotsen und Flugsicherungstechniker,
  • die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL),
  • die Vereinigung Cockpit (VC) für Piloten,
  • die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO) für Kabinenpersonal sowie
  • der Marburger Bund für Ärzte.

Das Tarifeinheitsgesetz vom 3.7.2015 soll nunmehr die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und den Betriebsfrieden wieder sichern. Es gilt seit dem 10.7.2015.

II. Prinzip "Ein Betrieb – Ein Tarifvertrag"

Mit dem Tarifeinheitsgesetz und den sich daraus ergebenden Konsequenzen müssen sich insbesondere solche Betriebe beschäftigen, in denen Tarifpluralität herrscht bzw. herrschen kann und die Gefahr von Tarifkollisionsstreitigkeiten besteht. Die zentrale Regelung des Tarifeinheitsgesetzes ist der neue § 4a TVG. Er lautet:

Zitat

§ 4a Tarifkollision

(1) Zur Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrags werden Tarifkollisionen im Betrieb vermieden.

(2) Der Arbeitgeber kann nach § 3 an mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden sein. Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Kollidieren die Tarifverträge erst zu einem späteren Zeitpunkt, ist dieser für die Mehrheitsfeststellung maßgeblich. Als Betriebe gelten auch ein Betrieb nach § 1 Absatz 1 Satz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes und ein durch Tarifvertrag nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 bis 3 des Betriebsverfassungsgesetzes errichteter Betrieb, es sei denn, dies steht den Zielen des Absatzes 1 offensichtlich entgegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Betriebe von Tarifvertragsparteien unterschiedlichen Wirtschaftszweigen oder deren Wertschöpfungsketten zugeordnet worden sind.

(3) Für Rechtsnormen eines Tarifvertrags über eine betriebsverfassungsrechtliche Frage nach § 3 Absatz 1 und § 117 Absatz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes gilt Absatz 2 Satz 2 nur, wenn diese betriebsverfassungsrechtliche Frage bereits durch Tarifvertrag einer anderen Gewerkschaft geregelt ist.

(4) Eine Gewerkschaft kann vom Arbeitgeber oder von der Vereinigung der Arbeitgeber die Nachzeichnung der Rechtsnormen eines mit ihrem Tarifvertrag kollidierenden Tarifvertrags verlangen. Der Anspruch auf Nachzeichnung beinhaltet den Abschluss eines die Rechtsnormen des kollidierenden Tarifvertrags enthaltenden Tarifvertrags, soweit sich die Geltungsbereiche und Rechtsnormen der Tarifverträge überschneiden. Die Rechtsnormen eines nach Satz 1 nachgezeichneten Tarifvertrags gelten unmittelbar und zwingend, soweit der Tarifvertrag der nachzeichnenden Gewerkschaft nach Absatz 2 Satz 2 nicht zur Anwendung kommt.

(5) Nimmt ein Arbeitgeber oder eine Vereinigung von Arbeitgebern mit einer Gewerkschaft Verhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrags auf, ist der Arbeitgeber oder die Vereinigung von Arbeitgebern verpflichtet, dies rechtzeitig und in geeigneter ...

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