Das BVerfG hatte nach seiner Entscheidung vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09, 3/09, 4/09, hierzu Sartorius ZAP F. 18, S. 1119) erneut zu überprüfen, ob die Regelbedarfe zur Sicherung des Lebensunterhalts im SGB II verfassungsgemäß sind. Zu klären war die durch das frühere Urteil des BVerfG erzwungene, zum 1.1.2011 in Kraft getretene Neuregelung. Zu entscheiden waren über zwei Vorlagebeschlüsse des SG Berlin und über eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des BSG.

Das BVerfG hat entschieden, dass die vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen derzeit noch mit dem Grundgesetz vereinbar sind (Beschl. v. 23.7.2014 – 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12 und 1 BvL 1691/12, s. hierzu Blüggel, jurisPR-SozR 22/2014 Anm. 1 und kritisch Lenze ZfSH/SGB 2014, 745, Hauser SozSich 2014, 344, Becker SozSich 2015, 142 und Rixen SozSich 2015, 135). Nach Auffassung des Gerichts genügen die Bestimmungen zur Höhe der Leistungen für den Regelbedarf im SGB II durch den Gesetzgeber grundsätzlich den zu stellenden Anforderungen an eine ausreichend transparente Bemessung der Leistungshöhe, die aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren erfolge und damit tragfähig sei. Insbesondere sei der Gesetzgeber nicht verpflichtet, das zur Berechnung des menschenwürdigen Existenzminimums herangezogene Statistikmodell – das aufgrund einer Einkommens- und Verbrauchsstichprobe Auskunft darüber gibt, welche Beträge die Haushalte in Deutschland für welche Verbrauchspositionen aufwendet, s.a. § 16 RBEG – ohne Ausnahme durchzuführen. Zulässig sei es, einzelne Ausgabenpostionen, die bei den Referenzhaushalten mit niedrigem Einkommen tatsächlich anfallen, als nicht existenznotwendig anzusehen und bei der Bemessung des Existenzminimums herauszunehmen.

Allerdings dürfe eine an sich zulässige Herausnahme einzelner Positionen aus der Berechnung des Regelbedarfs insgesamt kein Ausmaß erreichen, das die Tauglichkeit des Modells für die Ermittlung der Höhe existenzsichernder Regelbedarfe in Frage stelle. Das Gericht untersagt ausdrücklich, Leistungen für soziokulturelle Bedarfe als "Ausgleichsmasse" für Unterdeckungen in anderen Bereichen einzusetzen.

Das Gericht ergänzt seine Ausführungen zusätzlich mit konkreten Anweisungen an den Gesetzgeber und an die Normanwender:

  • Im Hinblick auf den Haushaltsstrom als wichtige Ausgabeposition sei der Gesetzgeber angesichts erheblicher Preissteigerungen in den letzten Jahren verpflichtet, nicht nur die Fortschreibungsregelung in § 7 RBEG zu beachten, sondern die grundlegenden Vorgaben für die Ermittlung des Bedarfs zu überprüfen und ggf. auch vor der regulären Fortschreibung anzupassen.
  • Wenn auch die Entscheidung des Gesetzgebers vertretbar sei, die mit dem Halten eines Kraftfahrzeugs verbundenen Kosten als nicht existenznotwendig anzusehen, müsse gewährleistet sein, dass die für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel anfallenden Kosten tatsächlich von den Leistungsberechtigten aufgebracht werden können.
  • Die Gefahr einer Unterdeckung bestehe besonders bei akut existenznotwendigen, aber langlebigen Konsumgütern (wie Kühlschrank, Gefrierschrank/-truhe, Waschmaschine, Wäschetrockner, Geschirrspül- und Bügelmaschine), die in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren angeschafft werden. Bei ihnen bestehe eine hohe Differenz zwischen den tatsächlichen Kosten und den monatlich im Regeldarf veranschlagten Bedarf von 3 EUR.
  • Das Risiko einer Unterdeckung bestehe ferner dann, wenn Gesundheitsleistungen, wie Sehhilfen, weder im Rahmen des Regelbedarfs gedeckt werden können noch anderweitig (v.a. in der gesetzl. Krankenversicherung) gesichert sind.
  • Die Regelung von Bedarfen für die gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch § 28 SGB II wird grundsätzlich gebilligt. Allerdings müssen, so das BVerfG, Bildungs- und Teilhabeangebote für die Bedürftigen auch tatsächlich ohne weitere Kosten erreichbar sein. Die in § 28 Abs. 7 S. 2 SGB II zur Erstattung von weiteren tatsächlichen Aufwendungen eingeführte Ermessensregelung sei demnach für Fahrtkosten als Anspruch auszulegen.

Das BVerfG nimmt den Gesetzgeber in die Pflicht, wenn es ausführt, dieser habe auf die Gefahr einer Unterdeckung durch zusätzliche Ansprüche auf Zuschüsse zur Sicherung des existenznotwendigen Bedarfs zu reagieren. Gleichzeitig weist es die Sozialgerichte an, ggf. Regelungen, wie § 24 SGB II über gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringende einmalige, als Zuschuss gewährte Leistungen verfassungskonform auszulegen, wenn ein existenzsichernder Bedarf ungedeckt sei. Die entsprechende Verpflichtung besteht gleichermaßen für die Jobcenter (Art. 20 Abs. 3 GG). Soweit § 24 SGB II nicht einschlägig ist – einmalige, als Zuschuss gewährte Leistungen sind dort nur in Abs. 3 angesprochen –, kommt ggf. eine analoge Anwendung der Zuschussregelung des § 21 Abs. 6 SGB II in Betracht.

 

Hinweis:

Das BVerfG leitet weiterhin das Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. ...

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