Rz. 251

Das BVerfG hat mit Urteil v. 9.2.2010 (1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09) entschieden, dass § 20 a. F. in wesentlichen Teilen (Regelleistung und Anpassung), § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1, Alt. 1 a. F. (Sozialgeld für Kinder unter 14 Jahren), § 74 a. F. (erhöhtes Sozialgeld für Kinder von 6 bis 13 Jahren als eigene Altersgruppe) und die Bekanntmachungen über die Höhe der Regelleistungen mit Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar waren und eine Anspruchsgrundlage für atypische Bedarfslagen zu schaffen war. Im Überblick:

Die Regelleistung war zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht evident unzureichend (zur physischen Sicherstellung zumindest ausreichend, zur sozialen Sicherstellung hatte der Gesetzgeber einen besonders weiten Gestaltungsspielraum). Dasselbe galt für die Partner- und Kindersätze.

Das Statistikmodell, die gewählte Referenzgruppe und die Kürzung von Ausgabepositionen bei anderweitiger Deckung oder fehlender Notwendigkeit zur Deckung des Existenzminimums waren verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Umfang der Kürzungen durfte auf fundierter empirischer Grundlage auch geschätzt werden.

Die verfassungsrechtlichen Mängel waren

  • Eckregelleistung – Nichtberücksichtigung oder Abschläge von erfassten Ausgaben in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (Abweichungen von den Strukturprinzipien des Statistikmodells) ohne empirische Grundlage.
  • Hochrechnung der errechneten Beträge aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) entsprechend der Entwicklung des aktuellen Rentenwerts (sachwidriger Maßstabwechsel, fehlender Bezug zum Existenzminimum).
  • Alle von der Regelleistung abgeleiteten Leistungen genügten deswegen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.
  • Der spezifische Bedarf von Kindern, der sich an kindlichen Entwicklungsphasen und an einer kindgerechten Persönlichkeitsentfaltung auszurichten hat, wurde nicht festgestellt (freihändige Setzung ohne empirische und methodische Fundierung, was auch die Leistungen für die Schule nach § 24a SGB II betrifft).

Das BVerfG sah sich nicht als befugt an, selbst einen bestimmten Leistungsbetrag festzusetzen. Die Regelleistungssätze waren nicht evident unzureichend. Der Gesetzgeber war deshalb nicht verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen. Er musste aber die notwendigen Leistungen realitäts- und bedarfsgerecht ermitteln und das Ergebnis im Gesetz als Leistungsanspruch verankern sowie eine Härtefallregelung schaffen. Der Gesetzgeber war nicht verpflichtet, die Leistungen rückwirkend neu festzusetzen.

Die Gewährung einer Regelleistung als Festbetrag ist grundsätzlich zulässig. Ein Ausgleich zwischen verschiedenen Bedarfspositionen muss möglich sein (individuelle Gestaltung des Verbrauchsverhaltens). Der Festbetrag deckt nur den durchschnittlichen Bedarf. Bei besonderem Bedarf ist zuerst auf das Ansparpotenzial zurückzugreifen, das in der Regelleistung enthalten ist.

Ab 9.2.2010 bis zum 31.12.2010 konnten Bürger in seltenen Fällen Leistungen zulasten des Bundes beanspruchen, die einen in Sonderfällen auftretenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen besonderen Bedarf decken (Härtefallregelung für atypische Bedarfslagen). Der Anspruch entsteht demnach, wenn der Bedarf so erheblich ist, dass die dem Hilfebedürftigen nach dem SGB II und von Dritten gewährten Leistungen auch unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleisten (enge und strikte Tatbestandsvoraussetzungen). Eine Härtefallregelung wie vom BVerfG gefordert ist durch das Gesetz zur Abschaffung des Finanzplanungsrates in § 21 Abs. 6 geschaffen worden. Dabei wurde die Rechtsprechung des BVerfG praktisch wörtlich übernommen (vgl. die Komm. zu § 21).

 

Rz. 252

Das BVerfG hat 2014 entschieden, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II jedenfalls seinerzeit noch verfassungsgemäß waren (BVerfG, Beschluss v. 23.7.2014, 1 BvL 10/12, 12/12, 1 BvR 1691/13). Gegenstand der Verfahren waren die Regelbedarfsleistungen für Alleinstehende, für zusammenlebende Volljährige, für Kinder bis zu 6 Jahren sowie für Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren.

Die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, wurden im Ergebnis nicht verfehlt. Insgesamt war die vom Gesetzgeber festgelegte Höhe der existenzsichernden Leistungen tragfähig begründbar. Soweit die tatsächliche Deckung existenzieller Bedarfe in Einzelpunkten zweifelhaft war, hatte der Gesetzgeber eine tragfähige Bemessung der Regelbedarfe bei ihrer anstehenden Neuermittlung auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 sicherzustellen. Die dazugehörige Neufestsetzung der Regelbedarfe ist erst für das Kalenderjahr 2017 vollzogen worden.

Der Entscheidung des BVerfG lagen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen zugrunde:

  • Der verfassungsrechtlich garantierte Leistungsanspruch erstreckt sich nur auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung sowohl der physische...

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