Gesetzliche Pflicht zur Zeiterfassung

Der Erste Senat des BAG (Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616) setzt ein Ausrufezeichen: Arbeitgeber sind nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG in unionsrechtskonformer Auslegung verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von dem Arbeitnehmer geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann!

Der antragstellende Betriebsrat und die Arbeitgeberin, die eine vollstationäre Wohneinrichtung als gemeinsamen Betrieb unterhalten, schlossen im Jahr 2018 eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit. Zeitgleich verhandelten sie über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung. Eine Einigung hierüber kam nicht zustande. Auf Antrag des Betriebsrats setzte das Arbeitsgericht eine Einigungsstelle zum Thema „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung” ein. Nachdem die Arbeitgeberinnen deren Zuständigkeit gerügt hatten, leitete der Betriebsrat das vorliegende Beschlussverfahren ein. Er hat die Feststellung begehrt, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zusteht. Das ArbG hat den Antrag zurückgewiesen, das LAG hat dem Antrag des Betriebsrats stattgegeben.

Die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberinnen hatte vor dem Ersten Senat des BAG Erfolg. Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ist der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließt ein – ggf. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus.

 

Hinweis:

1. Weil es eine gesetzliche Pflicht zur Einführung einer Zeiterfassung – jedenfalls im Wege der unionskonformen Auslegung des § 3 ArbSchG – gibt, ist ein Mitbestimmungsrecht des BR ausgeschlossen. Dann gibt es auch kein Initiativrecht zur Einführung der Zeiterfassung.

2. Die entschiedene Frage betrifft nur das „Ob”. Das „Wie”, jedwede Form der Ausgestaltung der Zeiterfassung unterliegt der Mitbestimmung und damit dem Initiativrecht des Betriebsrats!

3. Dogmatisch: Der Erste Senat begründet seine Entscheidung mit einfacher unionskonformer Auslegung anhand der RL 2003/88/EG, wie dies der EuGH in der CCOO-Entscheidung (EuG, Urt. v. 14.5. 2019 – C-55/18, NZA 2019, 683) getan hat. Die „große Keule” der unmittelbaren Anwendung der Grundrechte – hier Art. 31 Abs. 2 GrCh – ist nicht nötig.

4. Die Entscheidung ist allein zum Betriebsverfassungsrecht/Arbeitsschutz/Gesundheitsschutz ergangen. Zu den Darlegungs- und Beweislastgrundsätzen bei Überstunden bleibt es bei der Rspr. des Fünften Senats zu stellen (vgl. vorstehend I. 6. a und b).

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