Rz. 1

Die Vorschrift des § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG befasst sich entgegen dem ersten Anschein nicht mit dem Begriff des Betriebes. Vielmehr baut sie auf diesen auf und legt zusammen mit § 1 BetrVG und § 3 BetrVG betriebsratsfähige Einheiten innerhalb eines Unternehmens und damit einen Teil der Organisation der Betriebsverfassung fest.[1] § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG legt fest, unter welchen Voraussetzungen Betriebsteile als betriebsratsfähige Betriebe gelten und in der Folge einen eigenen Betriebsrat wählen können.[2]

 

Rz. 2

§ 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG enthält eine gesetzliche Fiktion. Diese Fiktion setzt den allgemeinen arbeitsrechtlichen Betriebsbegriff voraus und modifiziert diesen im Hinblick auf bestimmte Betriebsteile. Ziel der Vorschrift ist es zu verhindern, dass Betriebe ohne Betriebsräte bleiben. Zugleich braucht der Anwendungsbereich der Vorschrift aber nicht zu weit ausgedehnt werden, damit nicht eine Vielzahl kleinster Betriebsräte nebeneinander in einem Betrieb entstehen.

[1] ErfK/Koch, § 4 BetrVG Rz. 1.
[2] Fitting, § 4 Rz. 1.

1.1 Gesetzliche Ausgangssituation

 

Rz. 3

Ein Betriebsteil ist ein räumlich und/oder organisatorisch unterscheidbarer Betriebsbereich, der innerhalb eines Betriebs seine bestimmten Aufgaben zu erfüllen hat, aber in die gesamte Organisation des Betriebes eingegliedert ist (BAG, Beschluss v. 9.12.1992, 7 ABR 15/92). Nicht erforderlich ist, dass ein anderer arbeitstechnischer Zweck als im Hauptbetrieb selbst verfolgt wird.[1] Vielmehr kann er sogar mit diesem identisch sein.[2] Der Betriebsteil ist in den Hauptbetrieb organisatorisch eingegliedert und gehört grundsätzlich zum Hauptbetrieb, so dass in ihm kein eigener Betriebsrat gewählt werden kann. Im Interesse funktionsfähiger Betriebsratsstrukturen macht das Gesetz hiervon jedoch dann eine Ausnahme und sieht den Betriebsteil als eigenen Betrieb an, wenn er die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG erfüllt (5 wahlberechtigte Arbeitnehmer) und räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt oder in Bezug auf Aufgabenbereich und Organisation selbstständig ist. Dann wird er betriebsverfassungsrechtlich als eigener Betrieb behandelt – obwohl er eigentlich nur ein Betriebsteil ist – und für ihn kann ein eigener Betriebsrat gewählt werden, dessen Größe und Zusammensetzung sich ausschließlich nach den Verhältnissen im Betriebsteil richtet. Liegen diese Voraussetzungen aber nicht vor, bleibt es dabei, dass er zum Hauptbetrieb gehört.

 

Rz. 4

Die Fiktion des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG greift nur dann mit der Folge, dass ein Betriebsteil als selbstständiger Betrieb i. S. des Betriebsverfassungsrechts gilt, wenn er so weit vom Hauptbetrieb entfernt ist, dass ein erfolgreiches Zusammenwirken unter den Arbeitnehmern und mit einem gemeinsamen, einheitlichen Betriebsrat in Fragen der Betriebsverfassung nicht zu erwarten steht (BAG, Beschluss v. 24.2.1976, 1 ABR 62/75).

Der Zweck der Regelung des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG besteht darin, den Arbeitnehmern von Betriebsteilen eine effektive Vertretung durch einen eigenen Betriebsrat zu ermöglichen, wenn wegen der räumlichen Trennung des Betriebsteils von dem Hauptbetrieb die persönliche Kontaktaufnahme zwischen einem dortigen Betriebsrat und den Arbeitnehmern im Betriebsteil so erschwert ist, dass der Betriebsrat des Hauptbetriebs die Interessen der Arbeitnehmer nicht mit der nötigen Intensität und Sachkunde wahrnehmen kann und sich die Arbeitnehmer nur unter erschwerten Bedingungen an den Betriebsrat wenden können oder Betriebsratsmitglieder, die in dem Betriebsteil beschäftigt sind, nicht kurzfristig zu Sitzungen im Hauptbetrieb kommen können. Maßgeblich ist also sowohl die leichte Erreichbarkeit des Betriebsrats aus Sicht der Arbeitnehmer wie auch umgekehrt die Erreichbarkeit der Arbeitnehmer für den Betriebsrat. Eine Bestimmung des unbestimmten Rechtsbegriffs allein nach Entfernungskilometern kommt dabei nicht in Betracht, vielmehr ist eine Gesamtwürdigung aller Umstände vorzunehmen(BAG, Beschluss v. 17.5.2017, 7 ABR 21/15, Rz. 20).

Die Erreichbarkeit des im Hauptbetrieb bestehenden Betriebsrats per Post, Telefon oder moderner Kommunikationsmittel ist für die Beurteilung der Frage, ob Filialen räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind, unerheblich, da § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG allein auf die räumliche Entfernung abstellt (BAG, Beschluss v. 17.5.2017, 7 ABR 21/15).

Abgrenzungskriterien wie die Zugehörigkeit zur gleichen politischen Gemeinde sind untauglich. Entscheidend sind vor allem die Verkehrsmöglichkeiten (BAG, Beschluss v. 24.2.1976, 1 ABR 62/75). Bei dieser Beurteilung orientiert sich die Rechtsprechung bislang nicht an absoluten Entfernungen, sondern stützt sich vor allem auf die Verkehrsverbindungen sowohl mit öffentlichen Verkehrsmitteln als auch mit dem Kraftfahrzeug (BAG, Beschluss v. 14.1.2004, 7 ABR 26/03[3]). Für die jederzeitige Erreichbarkeit ist nicht auf die ungünstigste Verkehrssituation, sondern auf die regelmäßigen Verkehrsverhältnisse abzustellen. Wann von einer räumlich weiten Entfernung auszugehen ist...

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