Rz. 159

Nachdem sich der 6. Senat des BAG zunächst beim EuGH rückversichert hatte, dass die – systematisch beim Konsultationsverfahren verortete – Norm des Art. 2 Abs. 3 UAbs. 3 MERL bzw. des § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG keinen individualschützenden Charakter hat (vgl. Rz. 128b), kündigte der 6. Senat in einem das Anzeigeverfahren betreffenden Fall mit Beschluss vom 14.12.2023[1] an, seine bisherige Rechtsprechung zum Sanktionssystem im Massenentlassungsrecht ändern zu wollen. "Nach nochmaliger Prüfung der Rechtslage" sei er zur Auffassung gelangt, dass ein Verstoß gegen die aus § 17 Abs. 1 KSchG folgende Verpflichtung zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige ebenso wie alle anderen denkbaren Fehler des Arbeitgebers im Anzeigeverfahren nicht die Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB zur Folge habe. Die für derartige Fehler gebotene Sanktion müsse vielmehr vom Gesetzgeber bestimmt werden.[2] Keine Änderung sei hingegen in Bezug auf Fehler im Konsultationsverfahren veranlasst; sie würden weiterhin zur Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB führen.[3] Im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung des 2. Senats zur Nichtigkeit der Kündigung bei Fehlern im Anzeigeverfahren[4], fragte der 6. Senat beim 2. Senat an, ob er an seiner Rechtsauffassung festhalte oder ob es der Anrufung des Großen Senats bedürfe (vgl. § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG).[5]

[1] BAG, Vorlagebeschluss v. 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B), NZA 2024, 119; zum Kontext s. auch Fuhlrott/Fischer, NZA 2024, 246; Krause/Fischer, DB 2023, 2243; Schäfer, NZA 2023, 857.
[5] Dazu Fuhlrott/Fischer, NZA 2024, 246.

6.7.1 Auffassung des 6. Senats

 

Rz. 160

Im Beschluss vom 14.12.2023 führte der 6. Senat – auf derselben Linie wie die Äußerungen seiner Vorsitzenden in der Lit.[1] – zusammengefasst Folgendes aus: Die MERL (anders als ihr Entwurf) und §§ 17 ff. KSchG enthielten keine ausdrückliche Sanktionsregelungen für Fehler im Massenent­lassungsverfahren. Durch Art. 6 MERL werde lediglich den Mitgliedstaaten auferlegt, dafür zu sorgen, dass den Arbeitnehmervertretern und/oder den Arbeitnehmern administrative und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen nach der MERL zur Verfügung stehen. Deshalb müssten Sanktionen für Fehler im Massenentlassungsverfahren von den Mitgliedstaaten im nationalen Recht gefunden werden. Die Sanktionen müssten denjenigen entsprechen, die für nach Art und Schwere gleichartiger Verstöße gegen nationales Recht gölten. Die Sanktion müsse dabei wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Der Äquivalenzgrundsatz, der Effektivitätsgrundsatz (effet utile) und das Verhältnismäßigkeitsprinzip seien zu beachten. Die nationalen Gerichte hätten in eigener Zuständigkeit festzustellen, ob das nationale Recht diesen Anforderungen genüge und ob und ggf. welche Sanktionen sich dem nationalen Recht nach den dafür geltenden Regeln überhaupt entnehmen ließen.[2]

 

Rz. 161

Bei Anwendung dieser Grundsätze erfülle § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG bereits die Anforderungen an ein Verbotsgesetz i. S. d. § 134 BGB nicht. Das Anzeigeverfahren regele nicht das "Ob", sondern nur das "Wie" von Kündigungen. Es verlange nur die Einhaltung eines bestimmten Verfahrens und diene nicht der Verhinderung der Kündigung. Es schaffe lediglich "administrativ-prozedurale Verpflichtungen außerhalb des Arbeitsverhältnisses".[3] Das Anzeigeverfahren verfolge einen arbeitsmarktpolitischen Zweck. Die Anzeige habe zwar mittelbar auch individualschützende Wirkung; diese sei aber lediglich Reflex und nicht Zweck des Anzeigeverfahrens.[4] Darum gebiete § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG als Sanktion für Verstöße gegen die darin geregelten Pflichten nicht die Nichtigkeit der vom arbeitsförderungsrechtlichen Pflichtenkreis gar nicht berührten Kündigung, sondern nur eine arbeitsförderungsrechtliche Sanktion. Zudem sei die Nichtigkeit der Kündigung eine nicht angemessene und unverhältnismäßige Sanktion für Fehler im Anzeigeverfahren. Fehler im Anzeigeverfahren würden strenger bestraft als andere Fehler im deutschen Kündigungsschutzrecht. Der Eingriff in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers und die Nachteile für ihn stünden nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu den dadurch erlangten Vorteilen für das Erreichen der vom Gesetzgeber mit der Anzeigepflicht verfolgten arbeitsmarktpolitischen Ziele.[5] Zudem ließe sich ein stringentes Sanktionssystem nur gewinnen, wenn alle denkbaren Fehler im Anzeigeverfahren nicht zur Nichtigkeit der Kündigung führten.[6]

 

Rz. 162

Fehler im Konsultationsverfahren hätten hingegen die Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB zur Folge. Diese Sanktion genüge dem Effektivitätsgrundsatz und sei vom Äquivalenzgrundsatz geboten. Das Konsultationsverfahren re...

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