Rz. 973

§ 1 Abs. 5 KSchG erleichtert die Darlegungs- und Beweislast des kündigenden Arbeitgebers hinsichtlich der "dringenden betrieblichen Erfordernisse" und beschränkt die gerichtliche Überprüfung der Sozialauswahl auf "grobe Fehlerhaftigkeit".

4.9.3.1 Vermutung dringender betrieblicher Erfordernisse (Abs. 5 Satz 1)

 

Rz. 974

Sofern die oben genannten Voraussetzungen vorliegen, wird gesetzlich vermutet, dass die ausgesprochenen Kündigungen durch "dringende betriebliche Erfordernisse" i. S. d. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt sind. Die Beweislastregel des § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG wird damit zulasten des Arbeitnehmers umgekehrt.

 

Rz. 975

Die gesetzliche Vermutung erstreckt sich sowohl auf den betriebsbedingten Kündigungsgrund als auch auf die fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Unternehmen.[1] Im Fall einer betriebsbedingten Änderungskündigung geht die Vermutung nach § 1 Abs. 5 KSchG dahin, dass das Weiterbeschäftigungsbedürfnis zu den bisherigen Konditionen weggefallen ist. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass der örtliche Betriebsrat auch die Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Betrieben des Unternehmens überprüfen kann; dies ist angesichts des korrespondierenden Widerspruchsrechts des Betriebsrats gem. § 102 Abs. 3 Nr. 3 BetrVG konsequent. Das BAG hat sich dieser auch in der Literatur überwiegend vertretenen Auffassung angeschlossen (BAG, Urteil v.19.6.2007, 2 AZR 304/06[2]).

 

Rz. 976

Schließlich wird im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 5 KSchG auch eine fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu geänderten Arbeitsbedingungen oder nach zumutbaren Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen vermutet.[3] Beschäftigt der Arbeitgeber allerdings Leiharbeitnehmer auf Dauerarbeitsplätzen, so widerlegt dies die gesetzliche Vermutung (LAG Köln, Urteil v. 10.8.2009, 5 Sa 380/09[4]).

[1] BT-Drucks. 15/1204, S. 11; vgl. auch APS/Kiel, 5. Aufl. 2017, § 1 KSchG, Rz. 716 und HWK/Quecke, Arbeitsrecht, 8. Aufl. 2018, § 1 KSchG, Rz. 428.
[2] NZA 2008 S. 633; vgl. auch BAG, Urteil v. 27.9.2012, 2 AZR 516/11, NZA 2013 S. 559.
[3] HWK/Quecke, Arbeitsrecht, 8. Aufl. 2018, § 1 KSchG, Rz. 428.
[4] FD-ArbR 2009, 290456.

4.9.3.2 Eingeschränkte Überprüfung der Sozialauswahl (Abs. 5 Satz 2)

 

Rz. 977

Weitere Rechtsfolge des § 1 Abs. 5 KSchG ist, dass die soziale Auswahl der Arbeitnehmer, auf der die Namensliste beruht, in einem Kündigungsschutzverfahren nur auf "grobe Fehlerhaftigkeit" überprüft wird. Im Gegensatz zu § 1 Abs. 4 KSchG bezieht sich der eingeschränkte Prüfungsmaßstab allerdings nicht nur auf die Gewichtung der sozialen Gesichtspunkte, sondern auch auf die Richtigkeit der getroffenen Sozialauswahl und die Entscheidung im Einzelfall (BAG, Urteil v. 17.11.2005, 6 AZR 107/05[1]).

 

Rz. 978

Zum einen betrifft dies die Entscheidung der Betriebspartner über die Mitarbeiter, die überhaupt in einer Sozialauswahl zu berücksichtigen sind (Vergleichbarkeit). Dieser Aspekt war im Schrifttum lange umstritten; teilweise wurde vertreten, die Abgrenzung des einzubeziehenden Personenkreises sei eine Rechtsfrage und keine Frage des Auswahlermessens.[2] Das BAG ist jedoch seit Längerem der Auffassung, dass sich der reduzierte Prüfungsmaßstab des § 1 Abs. 5 KSchG auch auf die Vergleichsgruppenbildung erstrecke. Angesichts der Forderung nach größerer Rechtssicherheit mache es wenig Sinn, die Sozialauswahl, was die Kriterien und ihre Gewichtung angeht, nur einer eingeschränkten Überprüfung auf grobe Fehlerhaftigkeit zu unterwerfen, die Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer als solche jedoch auszuklammern (BAG, Urteil v. 7.5.1998, 2 AZR 536/97[3]).

 

Rz. 979

Zum anderen gilt dies auch für die Bewertung der berechtigten betrieblichen Interessen gem. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG durch die Betriebspartner. Die Herausnahme einzelner Leistungsträger aus der Sozialauswahl unterliegt somit ebenfalls nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle.[4] Das BAG hat diese Frage in seinen bisherigen Entscheidungen ausdrücklich offengelassen (BAG, Urteil v. 12.4.2002, 2 AZR 706/00[5]). Der gesetzgeberische Wille ist insoweit jedoch eindeutig; die Richtigkeitsvermutung des § 1 Abs. 5 KSchG soll sich ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs auch auf die Herausnahme bestimmter Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG erstrecken.[6] Selbst wenn die Gesetzesbegründung für die Auslegung der Vorschrift durch die Gerichte nicht bindend ist, so hat sich die Rechtsprechung erwartungsgemäß in diese Richtung entwickelt (BAG, Urteil v. 10.6.2010, 2 AZR 420/09[7]).

 

Rz. 980

Die eingeschränkte Prüfungskompetenz der Arbeitsgerichte betrifft danach die soziale Auswahl in jeder Hinsicht. Die Arbeitsgerichte werden die gesamte Sozialauswahl, einschließlich der Bildung auswahlrelevanter Gruppen und der Herausnahme von betrieblichen Leistungsträgern, nur auf grobe Fehler überprüfen (BAG, Urteil v. 21.2.2002, 2 AZR 581/00[8]). Die Rechtsfolgen des § 1 Abs. 5 KSchG knüpfen somit an der konkreten Namensliste, auf die sich die Betriebspartner verständigt haben, an.[9] Dabei muss die Beteiligung einzelner Altersgruppen am Personalabbau jedoch auch im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 5 KSchG streng proportional erfolgen. Nu...

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