Rz. 713

Hierin liegt allerdings keine umfassende und verdeckte Überprüfung der der Kündigung zugrunde liegenden Unternehmerentscheidung, sondern es wird vielmehr dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprochen. Eine Unternehmerentscheidung ist also daraufhin zu überprüfen, ob sie eine Beendigungskündigung unvermeidbar macht oder ob das geänderte unternehmerische Konzept nicht auch durch andere Maßnahmen verwirklicht werden kann.[1] Danach hat der Arbeitgeber vor einer Beendigungskündigung dem Arbeitnehmer von sich aus eine möglicherweise anderweitige Beschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz zu ggf. geänderten (gleichwertigen oder schlechteren) Bedingungen anzubieten. Es gilt der Vorrang von Änderungskündigungen gegenüber betriebsbedingten Beendigungskündigungen. Dies wird auch durch § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III verdeutlicht, wonach Arbeitgeber vorrangig durch betriebliche Maßnahmen die Inanspruchnahme von Leistungen der Arbeitsförderung sowie von Entlassungen von Arbeitnehmern vermeiden sollen.[2] Dringend sind die Erfordernisse allerdings nicht erst dann, wenn die Kündigung für den Arbeitgeber die letzte mögliche unternehmerische Maßnahme ist. Die betrieblichen Erfordernisse müssen sich nicht bis zur Unzumutbarkeit i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB verdichtet haben. Nach den Kriterien der Verhältnismäßigkeit ist vielmehr zu prüfen, ob die Kündigung unter mehreren möglichen zumutbaren Mitteln dasjenige ist, das den Arbeitnehmer am wenigsten belastet. Schließlich darf das mit der Kündigung bezweckte Ziel nicht außer Verhältnis zu der mit der Kündigung verbundenen Beeinträchtigung stehen. Das Kriterium der Dringlichkeit ist aber kein Einfallstor für eine allgemeine Interessenabwägung. Insbesondere bleibt es den Gerichten verwehrt, zu prüfen, ob die von der betrieblichen Entscheidung erwarteten Vorteile noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den Nachteilen einer Kündigung stehen. Es hat somit keine Zweckmäßigkeitsprüfung zu erfolgen.[3] Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III, da es sich hier nur um eine Sollvorschrift handelt, die keine arbeitsrechtlichen Auswirkungen hat. Sie besitzt keinen Sanktionscharakter.[4] Darüber hinaus besagt diese Norm lediglich, dass vom Arbeitgeber nur die Nutzung betrieblicher Alternativen, nicht aber die Revision seiner unternehmerischen Entscheidung verlangt wird.[5]

 

Rz. 714

Im Schrifttum wird teilweise die Dringlichkeit einer Kündigung verneint, der zwar eine unternehmerische Entscheidung und im Zuge von deren Umsetzung auch ein Wegfall von Arbeitsplätzen zugrunde liegt, die aber zu keiner Produktivitätssteigerung oder Gewinnmaximierung führt. Der Verlust des Arbeitsplatzes stehe in einem solchen Fall außer Verhältnis zu der kosten- und rentabilitätsneutralen unternehmerischen Maßnahme. Das Merkmal der Dringlichkeit solle den Arbeitnehmer gerade vor betriebsbedingten Kündigungen schützen, die ohne wirtschaftliche Notwendigkeit lediglich zur Gewinnmaximierung ausgesprochen werden.[6]

Diese Ansicht ist allerdings abzulehnen. Solange der Arbeitgeber eine Produktivitätssteigerung oder Gewinnmaximierung mit seinem unternehmerischen Konzept plant, steht der fehlende Erfolgseintritt der Dringlichkeit einer Kündigung nicht entgegen. Darüber hinaus ist eine Kostenersparnis nicht zwingende Voraussetzung für eine unternehmerische Maßnahme, die eine Kündigung rechtfertigen soll. Der Unternehmer kann unternehmerische Maßnahmen auch treffen, um sein Unternehmen strategisch neu auszurichten, einen Qualitätsstandard zu sichern oder künftige Marktentwicklungen vorwegzunehmen.

In der Praxis spielt die Dringlichkeit als weiteres Korrektiv einer Unternehmerentscheidung daher nur bei der Prüfung eine Rolle, ob eine andere mildere Maßnahme zur Verwirklichung des Konzepts infrage kommt. Eine Kündigung kann nur dann sozial gerechtfertigt sein, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Zwecks nicht durch eine gleich geeignete und für den Arbeitnehmer mildere Maßnahme vermieden werden kann, die berechtige Interessen Dritter nicht berührt.[7]

Unerheblich ist insoweit auch, ob der Arbeitgeber die Notwendigkeit einer Kündigung selbst verschuldet hat.[8]

[1] KR/Rachor, § 1 KSchG, Rz. 565; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rz. 235; BeckOK ArbR/Rolfs, Stand: 1.3.2024, § 1 KSchG Rz. 377.
[3] BAG, Urteil v. 30.4.1987, 2 AZR 184/86, zu IV I der Gründe; Löwisch/Schlünder/Spinner/Wertheimer/Schlünder, § 1 KSchG Rz. 333; KR/Rachor, § 1 KSchG Rz. 566; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rz. 236; a. A.: Preis, NZA 1995, 248; Däubler/Deinert/Deinert, § 1 KSchG Rz. 293.
[4] KR/Rachor, § 1 KSchG Rz. 567; vgl. dazu auch APS/Kiel, § 1 KSchG Rz. 529.
[5] Löwisch/Schlünder/Spinner/Wertheimer/Schlünder, § 1 KSchG Rz. 334.
[6] SPV/Preis, 11. Aufl. 2015, § 2 KSchG Rz. 926 f.
[7] Vgl. § 116 Abs. 1 des Diskussionsentwurfs eines Arbeitsvertragsgesetzes von Hen...

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