Leitsatz (amtlich)

1. Im Rahmen der Feststellung der Lebensstellung eines Arbeitsnehmers zum Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit bleiben auf den Umständen des Arbeitsmarkts beruhende Umstände, insbesondere Arbeitszeitdefizite, in gleicher Weise unberücksichtigt, wie dies spiegelbildlich auch für die Beurteilung gilt, ob der Versicherte seine vormalige Lebensstellung durch eine anderweitige Tätigkeit wahrt bzw. wahren kann.

2. Unterliegt die bei Eintritt der Berufsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit den Bedingungen eines auf gesetzlicher Grundlage allgemeinverbindlichen Tarifvertrages ("Mindestlohn Bau"), so ist die Wahrung dieser Lebensstellung durch eine anderweitige Tätigkeit daran zu messen, ob diese dem Versicherten nicht nur ein betragsmäßig den aktuellen Bedingungen dieses Tarifvertrages entsprechendes Einkommen vermittelt, sondern ihm zudem die Aussicht auf eine dessen Bedingungen annähernd gleichwertige künftige Einkommenssicherung eröffnet.

3. Ist nach den Bedingungen einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung eine "Verweisung" auf eine andere Tätigkeit für den Fall ausgeschlossen, dass das daraus erzielte Einkommen 20% oder mehr unter dem Einkommen in dem zuletzt ausgeübten Beruf liegt, so folgt hieraus nicht, dass bei Erzielung von Einkünften von mehr als 80% des vormaligen Einkommens eine "Verweisung" stets gerechtfertigt ist.

4. Kommt es im Verlauf eines Rechtsstreits über die auf Verurteilung zu laufenden und künftigen Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung gerichteten Klage des Versicherten zu einer temporären Unterbrechung der Leistungspflicht wegen einer zwischenzeitlich die vormalige Lebensstellung wahrenden Tätigkeit des Versicherten, so sind dem Versicherten auf diese Klage für die Folgezeit Leistungen zuzuerkennen, wenn er bei unverändertem Gesundheitszustand durch diese Tätigkeit seine vormalige Lebensstellung (erneut) nicht mehr wahren kann.

 

Verfahrensgang

LG Gera (Aktenzeichen 7. August 2013, 2 O 1540/12)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 26.06.2019; Aktenzeichen IV ZR 19/18)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 07.08.2013, Az. 2 O 1540/12, abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ab dem Monat März 2013 längstens bis zum 01.03.2031 aus dem Versicherungsvertrag vom 01.03.2000 (Versicherungsnummer ....) eine monatliche Berufsunfähigkeits-Rente in Höhe von 691,71 EUR, jeweils fällig bis zum Ende des laufenden Monats, zu zahlen.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des nach diesem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

5. Durch Beschluss wird der Gebührenstreitwert des Berufungsverfahrens auf 29.743,53 EUR festgesetzt (42 × 691,71 EUR + 1 × 691,71 EUR [1 Monat Rückstand]).

In Abänderung der erstinstanzlichen Wertfestsetzung wird der Gebührenstreitwert des Verfahrens vor dem Landgericht auf 29.743,53 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Kläger begehrt die Fortentrichtung einer monatlichen Rente wegen Berufsunfähigkeit, nachdem die Beklagte ihre geleisteten Rentenzahlungen eingestellt hat.

Der Kläger unterhält bei der Beklagten seit 01.03.2000 eine Versicherung gegen das Risiko der Berufsunfähigkeit. Dem Vertrag liegen die "Allgemeinen Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung" (Anlage K5, Bl. 16) sowie die "Tarifbestimmungen zur Tabelle BV" (Anlage K6, Bl. 19), jeweils mit Stand Oktober 1998, zugrunde.

Im Januar 2008 wurde bei dem Kläger ein Bandscheibenvorfall diagnostiziert. Zur dieser Zeit stand der Kläger aufgrund Vertrags vom 30.11.2007 (Anlage K18, Bl. 147) in einem Arbeitsverhältnis als Dachdeckerhelfer zu einem Stundenlohn von 10,00 EUR bei einer vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden. Dieses Arbeitsverhältnis war - ursprünglich - bis 31.12.2007 befristet gewesen und endete aufgrund betriebsbedingter Kündigung des Arbeitgebers vom 28.08.2008 (Anlage K19, Bl. 149).

Auf "Antrag" des Klägers vom 02.07.2008 erteilte die Beklagte dem Kläger unter dem Datum des 09.08.2008 die Zusage von Leistungen und erbrachte bis August 2012 die vertragsgemäße Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 691,71 EUR monatlich.

Im Jahr 2008 hatte der Kläger - nach Eintritt der Berufsunfähigkeit - eine Umschulung zum Kaufmann begonnen, welche er im Juni 2011 abschloss.

Seit 23.04.2012 ist der Kläger bei einer regelmäßigen Arbeitszeit von 28 Stunden wöchentlich zu einem monatlichen Bruttolohn von 1.000,00 EUR als "Kaufmann im Großhandel" berufstätig gewesen.

Mit Schreiben vom 10.07.2012 (Anlage K4, Bl. 15) errechnete die Beklagte ein in den Jahren 2004 bis 2007 erzieltes Durchschnittseinkommen des Klägers in Höhe von brutto 12.340,00 EUR pro Jahr. Sie verlautbarte die Auffassung, die nunmehr ausgeübte Berufstätigkeit ...

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