Verfahrensgang

LG Erfurt (Urteil vom 16.10.2015; Aktenzeichen 8 O 196/15)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des LG Erfurt vom 16.10.2015, Az. 8 O 196/15, wie folgt abgeändert:

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 86.384,84 EUR nebst Jahreszinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 01.04.2014 zu zahlen.

2. Der Beklagte hat die Kosten beider Rechtszüge zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Dem Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger verlangt als Sachwalter im Sinne von §§ 270 ff. InsO vom Beklagten die Rückzahlung von Umsatzsteuerzahlungen und Lohnsteuerzahlungen, die die Gemeinschuldnerin im Stadium der sog. vorläufigen Eigenverwaltung nach § 270a InsO bis zum Zeitpunkt der Eröffnung des eigentlichen Eigenverwaltungsverfahrens nach § 270 InsO an den Beklagten geleistet hat.

Er stützt die Klage auf Insolvenzanfechtung, deren Voraussetzungen im Übrigen unstreitig sind.

Streitig ist lediglich, ob die Zahlungen in diesem Stadium als Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 4 InsO anzusehen sind und damit der Insolvenzanfechtung entzogen wären.

Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen.

Das LG hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Zahlungen Masseverbindlichkeiten analog § 55 Abs. 4 InsO darstellten und damit der Insolvenzanfechtung entzogen seien.

Mit seiner Berufung wendet sich der Kläger gegen die Analogieargumentation des LG.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil abzuändern und nach seinem erstinstanzlichen Klageantrag zu erkennen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die Argumentation des LG für richtig.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.

II. Die Berufung hat Erfolg. Sie ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 511 Abs. 1, 2 Nr. 1, 517, 519, 520 ZPO). Sie ist auch in der Sache begründet. Denn das LG hätte der Klage stattgeben müssen. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch aus §§ 143 Abs. 1 Satz 1, 130 Abs. 1 Nr. 2, 280 InsO, 291 BGB.

Das Urteil des LG, das in ZIP 2015, 2181 f. = NZI 2016, 32 f. = ZVI 2016, 111 f. veröffentlicht ist, ist in der Fachliteratur auf Ablehnung gestoßen (Kahlert, EWiR 2015, 709 f.; Sterzinger NZI 2016, 33 f.; Landry, jurisPR-HaGesR 5/2016 Anm. 5). Ihm kann nicht gefolgt werden.

Eine analoge Anwendung von § 55 Abs. 4 InsO scheidet in der vorläufigen Eigenwaltung aus. Im Gesetzgebungsverfahren gab es zwar einen Vorschlag des Bundesrats, den Wortlaut des § 55 Abs. 4 InsO auf die vorläufige Eigenverwaltung auszuweiten. Die Bundesregierung ist dem aber entgegengetreten und der Vorschlag ist nicht Gesetz geworden (ausführlich: Landry, jurisPR-HaGesR 5/2016 Anm. 5). Es fehlt daher an einer planwidrigen Regelungslücke, die Voraussetzung für eine Analogie ist. Es liegt vielmehr eine bewusste Nichtregelung vor. Eine Analogie widerspricht auch der übrigen Regelungssystematik der Eigenverwaltung. § 270a InsO sieht für das Verfahrensstadium des vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens (Eröffnungsverfahren) anders als § 270b InsO für das Verfahrensstadium des Vorbereitungsverfahrens (sog. Schutzschirmverfahren) eine Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten nicht vor (BGH ZInsO 2013, 460). Demgegenüber knüpft § 270b Abs. 3 InsO, der diese Ermächtigung regelt, daran die Rechtsfolge des § 55 Abs. 2 InsO, also das Entstehen von Masseverbindlichkeiten. Wenn aber im Eröffnungsverfahren (§ 270a InsO) eine solche Ermächtigung nicht vorgesehen ist, können in diesem Stadium auch keine Masseverbindlichkeiten begründet werden. Sie können demzufolge auch nicht über den Umweg einer analogen Anwendung von § 55 Abs. 4 InsO begründet werden. Denn dies würde dem Willen des Gesetzgebers widersprechen. Es würde die unterschiedliche Regelungssystematik des Eröffnungsverfahrens und des Schutzschirmverfahrens verändern. Die Begründung von Masseverbindlichkeiten bevorzugt Massegläubiger und benachteiligt die übrigen Insolvenzgläubiger und bedarf daher insoweit einer gesetzlichen Ermächtigung. Eine solche enthält nur § 270b Abs. 3 InsO, nicht aber § 270a InsO.

Auch die zu § 55 Abs. 4 InsO vorhandene Rechtsliteratur lässt keinerlei Neigung zu einer analogen Anwendung dieser Vorschrift erkennen. Im Gegenteil: Bereits die Einführung von § 55 Abs. 4 InsO, also die direkte Anwendung dieser Vorschrift, ist auf heftige Kritik gestoßen und hat die Befürchtung geweckt, der Gesetzgeber wolle das abgeschaffte Fiskusvorrecht wieder einführen (FK-Bornemann, InsO, 7. Aufl. 2013, § 55 Rn. 48). Teilweise w...

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