Leitsatz (amtlich)

1. Bietet ein Arbeitgeber der öffentlichen Hand allen infrage kommenden Arbeitnehmern (hier: Erzieherinnen in Kindertageseinrichtungen einer Großstadt) zur Vermeidung von betriebsbedingten Kündigungen Änderungsverträge mit erheblicher Reduzierung der Arbeitszeit unter Einräumung eines mehrjährigen Kündigungsschutzes an und nehmen eine große Anzahl von Arbeitnehmern dieses Angebot an, dann stellt die dadurch bewirkte erhebliche Verkleinerung der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer eine bloße Reflexwirkung dieser Unkündbarkeitsvereinbarungen und keine Umgehung des § 1 Abs. 3 KSchG mit der Folge der Nichtberücksichtigung dieser Vereinbarungen dar.

2. Beruft sich der bei der anschließenden Kündigungswelle aus betriebsbedingten Gründen entlassene Arbeitnehmer, der sich zu einer Vertragsänderung mit Herabsetzung der Arbeitszeit unter Gewährung von Kündigungsschutz nicht bereit erklärt hatte, darauf, die Änderungsverträge seien nur zu dem Zweck geschlossen worden, um ältere und länger beschäftigte Arbeitnehmer – angesichts des Ausschlusses von jüngeren und kürzer beschäftigten Arbeitnehmern aus der Sozialauswahl – entlassen zu können, trägt dieser Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass mit den Änderungsvereinbarungen gerade diese Absicht verfolgt wurde und dass das erklärte Ziel, nämlich Kündigungen zu vermeiden, nur vorgeschoben war.

 

Normenkette

KSchG § 1

 

Verfahrensgang

ArbG Erfurt (Urteil vom 10.03.1998; Aktenzeichen 8 Ca 2833/97)

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Erfurt vom 10.03.1998 – 8 Ca 2833/97 – wird kostenpflichtig als unbegründet zurückgewiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung, die gegenüber der seit 1986 als Erzieherin im Bereich der Kindertageseinrichtungen bei der beklagten Stadt bzw. ihrer Rechtsvorgängerin beschäftigten Klägerin am 26.06.1997 zum 31.12.1997 ausgesprochen wurde.

Anlass für die Kündigung der Klägerin wie auch weiterer 86 Erzieherinnen aus Kindertageseinrichtungen der beklagten Stadt war der starke Rückgang der angemeldeten Kinder aus geburtenschwachen Jahrgängen für die Planungsphase 1997/98.

Dieser Umstand hatte schon in den vergangenen Jahren mehrfach zu Massenkündigungen von Erzieherinnen in städtischen Kindertageseinrichtungen geführt.

Zuvor hatte die Beklagte durch Tarifverträge mit kurzen Laufzeiten bzw. durch einzelvertragliche Abreden versucht, betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden oder auf das unvermeidbare Maß zu beschränken.

So war mit Tarifvertrag vom 27.08.1996 die durchschnittliche regelmäßige Arbeitszeit i. S. des § 15 Abs. 1 BAT-O für die Zeit vom 01.10.1996 bis 28.02.1997 auf 32 Stunden gesenkt worden, wobei während der Laufzeit des Tarifvertrages die davon erfassten Erzieherinnen Schutz vor betriebsbedingten Kündigung genossen.

Mit Tarifvertrag vom 03.02.1997 (Bl. 44 d. A.) wurde die gleiche Regelung mit Absenkung der Arbeitszeit und Kündigungsschutz auf den Zeitraum vom 01.03. – 31.05.1997 verlängert. In der Protokollerklärung Nr. 3 zu diesem Tarifvertrag heißt es, dass die Parteien sich darin einig seien, dass während der Laufzeit des Tarifvertrages verbindliche Teilzeitangebote unterbreitet und durch die Beschäftigten verbindliche Annahmeangebote gemacht würden.

Mit Tarifvertrag vom 28.04.1997 (Bl. 42 d. A.) wurde die regelmäßige Arbeitszeit für den Zeitraum 01.07.1997 – 28.02.1998 auf 32 Stunden für die Erzieherinnen abgesenkt, die am 01.07.1997 in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis standen; für den gleichen Zeitraum wurde in § 3 des Tarifvertrages Schutz gegenüber betriebsbedingten Kündigung vereinbart.

Mit Stadtratsbeschluss vom 18.12.1996 (Bl. 28 d. A.) wurde der Bedarfsplan Tageseinrichtungen für Kinder 1997 II/1998 I bestätigt, der u. a. die Schließung von 10 Kindertagesstätten zum Schuljahresbeginn 1997/98 vorsah. Der Oberbürgermeister wurde mit der Umsetzung aller sich aus dem Bedarfsplan ergebenden Maßnahmen und Konsequenzen beauftragt.

Im Stellenplan vom 21.01.1997 betreffend das pädagogische Personal in Kindertages-einrichtungen (Auszug Bl. 39 d. A.), der durch Haushaltssatzung vom Stadtrat beschlossen und durch den Stellenzuweisungsplan (Bl. 85 d. A.) ergänzt wurde, wurden von den 712 Planstellen 417 Stellen ohne Kw-Vermerk aufgeführt und 88 Stellen mit Kw-Vermerk 3/97, 172 Stellen mit Kw-Vermerk 9/97 und 35 Stellen mit undatiertem Kw-Vermerk versehen.

Mit Schreiben vom 06.01.1997 (Bl. 217 d. A.) wurden alle Mitarbeiter/innen der Stadtverwaltung gefragt, ob sie ggf. mit einer einzelvertraglichen Reduzierung der Arbeitszeit auf 30 Stunden oder 20 Stunden einverstanden wären, wobei bei Teilzeitarbeit von 30 Wochenstunden ein Kündigungsschutz von drei Jahren und bei Teilzeitarbeit von 20 Stunden ein Kündigungsschutz von fünf Jahren in Aussicht gestellt wurde. Die Klägerin bestätigte am 21.01.1997 unverbindlich ein Interesse an einer Arbeitszeitverkürzung auf 30 Wochens...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge