Das Wichtigste in Kürze:

1. Jedes rechtswidrige Urteil ist verfassungswidrig, berechtigt aber nicht unbedingt zur Verfassungsbeschwerde.
2. Das BVerfG prüft nur die Verletzung von sog. spezifischem Verfassungsrecht.
3. Wann spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist, ist vollkommen unprognostizierbar.
4. Der Anspruch, jede verfassungswidrige Entscheidung mit der Verfassungsbeschwerde beseitigen zu können, wird in der Praxis nicht eingelöst.
5. Es gibt einen Unterschied zwischen dem law in books und dem law in action.
6. Die Annahme des BVerfG, dass im Rechtsstaat des Grundgesetzes das Recht die Praxis und nicht die Praxis das Recht bestimmt, ist nicht immer zutreffend.
 

Rdn 981

 

Literaturhinweise:

Bender, Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung gerichtlicher Entscheidungen, 1991

Brink, Tatsachengrundlagen verfassungsgerichtlicher Judikate, in: Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009

Herzog, Das akzeptierte Grundgesetz, in: Festschrift für Günter Dürig, 1990, S. 431

von Lindeiner, Willkür im Rechtsstaat, 2002

Miebach, Zur Willkür- und Abwägungskontrolle des Bundesverfassungsgerichts bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile, 1990

Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen, 1963

Voßkuhle, Erosionserscheinungen des zivilprozessualen Rechtsmittelsystems, NJW 1995, 1377

Wank, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte, Jus 1980, 545

s.a. die Hinw. bei → Verfassungsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 730.

 

Rdn 982

1.a) Gem. § 26 BVerfGG herrscht im Verfahren vor dem BVerfG der Untersuchungsgrundsatz. Dieser wird jedoch kaum genutzt (vgl. Brink, S. 3 ff.), obwohl jede rechtswidrige, d.h. formell und/oder materiell falsche Entscheidung verfassungswidrig ist, denn dann erfolgt der darin liegende Eingriff in Grundrecht jedenfalls nicht auf "aufgrund Gesetz" (vgl. Herzog, S. 431 f.; Schlaich/Korioth, Rn 222 f. m.w.N.; Wank Jus 1980, 545; Voßkuhle NJW 1995, 1377, 1383; Miebach, S. 31 ff. m.w.N.). Soweit ein Gericht, dessen Entscheidung mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wird, Grundrechtsbestimmungen unmittelbar selbst ausgelegt und angewandt hat, obliegt es dem Bundesverfassungsgericht, Reichweite und Grenzen der Grundrechte zu bestimmen und festzustellen, ob Grundrechte nach ihrem Umfang und Gewicht in verfassungsrechtlich zutreffender Weise berücksichtigt worden sind (BVerfGE 108, 282, 294). Probleme entstehen damit bei der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts mit mittelbarer Grundrechtsauslegung.

 

Rdn 983

b) Aufgrund der Elfes-Entscheidung ist die Beachtung des einfachen Rechts selbst ein Grundrecht geworden (Bender, 2 f.). Die Leitsätze der Elfes-Entscheidung lauten u.a. (vgl. BVerfGE 6, 32):

Verfassungsmäßige Ordnung i.S. des Art. 2 Abs. 1 GG ist die verfassungsmäßige Rechtsordnung, d.h. die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind.
Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, eine seine Handlungsfreiheit beschränkende Rechtsnorm gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung (mittelbare Rechtssatzverfassungsbeschwerde (s. → Verfassungsbeschwerde, Zulässigkeit, Beschwerdegegenstand, Teil C Rdn 1163).
 

☆ Damit wurde die Beschwerdebefugnis gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG wesentlich erweitert .Beschwerdebefugnis gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG wesentlich erweitert.

 

Rdn 984

Auch in späteren Entscheidungen hat das BVerfG den Einfluss der Grundrechte auf einfaches Recht hervorgehoben. So hatte es im sog. Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198, 204) darauf verwiesen, dass das Wertsystem der Grundrechte nicht nur vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt sichert, sondern als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten muss, Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflusse es selbstverständlich auch das (bürgerliche) Recht; keine (bürgerlich-rechtliche) Vorschrift dürfe in Widerspruch zu ihm stehen, jede müsse in seinem Geiste ausgelegt werden. Der Richter habe kraft Verfassungsgebots zu prüfen, ob die von ihm anzuwendenden materiellen (zivilrechtlichen) Vorschriften beeinflusst seien. Treffe das zu, dann habe er bei Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften die sich hieraus ergebende Modifikation zu beachten. In zwei weiteren Folgeentscheidungen (BVerfGE 12, 113 [sog. Schmid-Spiegel-Beschluss] und zur Ehegattenbesteuerung (BVerfGE 13, 318) wurde vom BVerfG dann überprüft, ob die Fachgerichte den grundgesetzlichen Wertmaßstäben Rechnung getragen hätten.

 

Rdn 985

2.a) Gleichwohl prüft das BVerfG nicht jeden Rechtsfehler im Einzelnen nach, sondern nur, wenn sog. spezifisches Verfassungsrecht verletzt wird (vgl. dazu a. Rdn 988). Hierzu wird immer wieder der sog. Patent-Beschluss aus dem Jahr 1964 zitiert (BVerfGE 1, 418). In ihm wird ausgeführt, dass die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen R...

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