Das Wichtigste in Kürze:

1. Ob der Beschwerde gegen die Versagung von Akteneinsicht während des Hauptverfahrens § 305 S. 1 entgegensteht, ist umstritten.
2. Die Frage der Anfechtbarkeit wird von der Rspr. inzwischen weitgehend verneint.
 

Rdn 450

 

Literaturhinweise:

Burhoff, Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger zu neuerer Rechtsprechung in Strafsachen, ZAP F. 22 R, S. 91

Danckert, Anmerkung zu KG StV 1989, 8, StV 1989, 10

Krack, Anmerkung zu OLG Brandenburg NJW 1996, 67, JR 1996, 172

s.a. die Hinw. bei → Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Akteneinsicht, Teil B Rdn 67

→ Justizverwaltungsakte, Anfechtung (§§ 23 ff. EGGVG), Verweigerung von Akteneinsicht, Teil B Rdn 461.

 

Rdn 451

1. Ob der Beschwerde gegen die Versagung von Akteneinsicht während des Hauptverfahrens § 305 S. 1 – mitunter wird zwischen Akteneinsicht vor und nach Beginn der HV unterschieden – entgegensteht, ist umstritten. Rein praktisch sind Interessengegensätze zu berücksichtigen:

Das Gericht benötigt die Akten außerhalb der HV zur Vorbereitung auf diese, innerhalb der HV zu deren Durchführung.
Der Verteidiger hat Anspruch auf Akteneinsicht in jedem Stadium des Verfahrens und das nicht nur einmal, sondern sooft ein entsprechendes Bedürfnis besteht.
 

Rdn 452

2. Während die obergerichtliche Rspr. früher die Anfechtbarkeit der Versagung von Akteneinsicht im Hauptverfahren mit der Begründung bejaht hatte, die Akteneinsicht stehe weder in unmittelbaren Zusammenhang mit der Urteilsfällung noch werde sie bei dieser nochmals einer Prüfung unterzogen (OLG Brandenburg StV 1996, 7 m. zust. Anm. Hiebl StraFo 1994, 94 und abl. Anm. Krack JR 1996, 172; OLG Frankfurt/Main StV 2001, 611 [612]; OLG Koblenz NStZ 1995, 611) wird ein Anfechtungsrecht unter Hinweis auf § 305 S. 1 heute überwiegend verneint (wieder ein Beispiel für einen ausschließlich auf den Verfahrensfortgang gerichteten Tunnelblick der Rspr.; vgl. zu den Rechtsmittel bei Akteneinsicht eingehend Burhoff, EV, Rn 361 ff.). Dazu folgende

 

Rdn 453

 

Rechtsprechungsbeispiele:

OLG Frankfurt/Main NStZ-RR 2001, 374 (nur im Ergebnis zutreffend, weil der – verteidigte – Angeklagte Akteneinsicht für sich selbst beantragt hatte); StV 2004, 362 m. abl. Anm. Lüderssen; (Anfertigung von Fotokopien derjenigen Asservaten, die sich in der Asservatenkammer befinden [ohne Bekleidungsgegenstände]);
OLG Hamm NStZ 2005, 226 m. abl. Anm. Fischer StraFo 2004, 420 (nur im Ergebnis zutreffend, weil Mitschriften der Berufsrichter über die HV keine Aktenbestandteile sind);
OLG Koblenz StV 2003, 608 (Videoaufnahme der Vernehmung eines früheren Mitbeschuldigten);
OLG Naumburg NStZ-RR 2010, 151 m. Anm. Bachmann NJ 2010, 216 (zur Vorbereitung auf die Vernehmung eines Zeugen in der HV).
 

Rdn 454

Die Lit. – ausgenommen früher Meyer-Goßner/Schmitt, der aber in § 147 Rn 41 ab der 54. Aufl. die Auffassung übernommen hat, § 305 S. 1 stehe der Beschwerde entgegen – bekennt sich nach wie vor zur Anfechtbarkeit der Versagung von Akteneinsicht auch im Hauptverfahren (KK-Laufhütte/Willnow, § 147 Rn 28; KMR-Plöd, § 147 Rn 7; LR-Lüderssen/Jahn, § 147 Rn 167; SK-StPO/Wohlers; § 147 Rn 115; Burhoff, EV, Rn 361 ff.).

 

Rdn 455

Die Auffassung in der Rspr. (vgl. Rdn 452) vermag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil sie § 305 S. 1 ausschließlich unter den Gesichtspunkten der Vermeidung einer Doppelüberprüfung bzw. der Nichteinmischung in das Hauptverfahren heranzieht. Dagegen bleibt die Vermeidung von Verfahrensverzögerungen im Ergebnis außer Betracht; denn das Verfahren ist stets in seiner Gesamtheit zu sehen, in dem zwar zunächst durch die Unanfechtbarkeit der Versagung von Akteneinsicht vermeintlich eine "Verfahrensbeschleunigung" herbeigeführt, nach Abschluss des Hauptverfahrens aber die Befassung des Revisionsgerichts (§ 338 Nr. 8) und damit die Erforderlichkeit eines weiteren Rechtszugs provoziert wird (vgl. SK-StPO/Frisch, § 305 Rn 23).

 

☆ Der Ausschluss der Anfechtbarkeit ist aber auch mit dem zum System der StPO in Konkurrenz stehenden Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 3 Buchst. b, Buchst. d EMRK) nicht vereinbar; denn die Vorenthaltung der in den Akten befindlichen Information verletzt den Angeklagten gerade während des Hauptverfahrens in seinem RechtGrundsatz des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 3 Buchst. b, Buchst. d EMRK) nicht vereinbar; denn die Vorenthaltung der in den Akten befindlichen Information verletzt den Angeklagten gerade während des Hauptverfahrens in seinem Recht

auf eine angemessene Vorbereitung der Verteidigung (vgl. dazu für das Bußgeldverfahren LG Ellwangen DAR 20ß11, 418; LG Dessau-Roßlau VRR 2011, 275)
ggf. auf sein Fragerecht (so der Fall OLG Naumburg NStZ-RR 2010, 151 m. Anm. Bachmann NJ 2010, 216)
und insgesamt das Prinzip der Chancen- oder Waffengleichheit (EGMR StV 2001, 201).

Damit steht die durch die kritisierte Rechtsprechung vorgenommene Auslegung des § 305 S. 1 zugleich in eklatantem Widerspruch zu Art. 13 EMRK, weil sie dem Angekl...

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