Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. Gesundheitserstschaden. psychische Störung. Feststellung im Vollbeweis. medizinische Voraussetzungen. haftungsbegründende Kausalität. weitere Unfallfolge. posttraumatische Belastungsstörung. haftungsausfüllende Kausalität. Überfall während der Arbeitsschicht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur medizinischen Prüfung und juristischen Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Unfallfolge.

2. Das Erleben eines Überfalls stellt ein einwirkendes Ereignis, ein Unfallereignis innerhalb einer Arbeitsschicht, dar.

3. Das bloße Erleben eines geeigneten Unfallereignisses (A-Kriterium) führt nicht zwangsläufig zu der spezifischen Traumafolgestörung "posttraumatische Belastungsstörung".

3. Die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung kann juristisch nur im Vollbeweis festgestellt werden, wenn die medizinischen Voraussetzungen (zumindest) durch Sachverständige schlüssig und nachvollziehbar dargelegt und dezidiert begründet werden. Hierzu ist es zwingend erforderlich, dass medizinischen Befunde aus den (ermittelten) Unterlagen, insbesondere medizinische (Befund-) Berichte, sowie den Befunden bei der Begutachtung tatsächlich gesichert und hierdurch, nach den konkreten Vorgaben der Manuale, medizinisch belegt werden. Hierzu gehört auch die Überprüfung der Authentizität der geklagten Beschwerden, die eine Kernaufgabe jeder psychiatrischen Begutachtung ist, um Simulation und Aggravation auszuschließen.

4. Nur dann ist der Rechtsanwender im nächsten Schritt (Subsumtion des gesetzlichen Tatbestandes) im medicolegalen Zusammenhang in der Lage, eine Gesundheitsstörung "im Vollbeweis" feststellen. Der Rechtsanwender muss vom Vorliegen der (medizinischen) Voraussetzungen/Diagnosekriterien voll überzeugt sein (vgl § 128 SGG).

5. Ein Gericht hat sich zwingend mit den aktuellen Diagnosemanualen auseinanderzusetzen und die medizinischen Schlussfolgerungen der Gutachter anhand der konkreten Diagnosevoraussetzungen auf Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit hin zu überprüfen, um zu einer eigenen juristischen Wertung und Feststellung zu gelangen.

6. Bei der Prüfung eines Arbeitsunfalles nach § 8 Abs 1 SGB VII ist zu beachten, dass in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zum Unfallereignis ein Gesundheitserstschaden - innerhalb einer Arbeitsschicht - vorliegen muss und beides im Vollbeweis festzustellen ist.

7. Bei psychischen Gesundheitsstörungen, die im Rahmen von Arbeitsunfällen geltend gemacht werden, ist ein Gesundheitserstschaden - medizinisch als initiale seelische Beeindruckung - festzustellen.

8. Die feststellbare pathologische psychische Reaktion - im zeitlichen Zusammenhang zum einwirkenden Ereignis - kann einen traumatischen Prozess in Gang setzen, der in der Folgezeit - frühestens nach einem Monat - zur Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung führen kann, wenn die weiteren Symptomkriterien (B-E) erfüllt sind.

9. Ohne die tatrichterliche Feststellung eines (psychischen/seelischen) Gesundheitserstschadens kann bereits ein Arbeitsunfall im Rechtssinne des § 8 Abs 1 SGB VII nicht festgestellt werden.

10. Eine posttraumatische Belastungsstörung ist im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität zu prüfen, denn nach den medizinischen Diagnosemanualen darf die Diagnose in einem kausalen Zusammenhang mit einem Unfallereignis nicht vor dem Ablauf eines Zeitraumes von einem Monat gestellt werden.

11. Die Feststellung eines "seelischen" Erstschadens im zeitlichen Zusammenhang mit einem traumatischen Erlebnis kann erhebliche Beweisprobleme bereiten, wenn sich erst Monate oder auch Jahre nach einem Unfallereignis mögliche psychische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung manifestieren. Diese Beweisschwierigkeiten führen aber nicht dazu, dass eine posttraumatische Belastungsstörung als ein "Gesundheitserstschaden" im rechtlichen Kontext eines Arbeitsunfalles angesehen werden kann, denn ein (Arbeits-)Unfall setzt zwingend den vollbewiesenen Gesundheitserstschaden "am Unfalltag - innerhalb der Arbeitsschicht" voraus (vgl zu dieser Diskussion: Fabra M: Posttraumatische Belastungsstörung und Erstschaden aus medizinischer Sicht. MedSach (2020), 3: 107-112; Forchert M: Der Erstschaden als Voraussetzung des Arbeitsunfalls. MedSach 117 (2021), 1: 15-27; Spellbrink W.: Die Prüfung des Vorliegens eines Arbeitsunfalls gem. § 8 Abs 1 SGB VII am Beispiel der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) MedSach (2020), 3: 114-119; so auch Münchener Anwalts-Handbuch Sozialrecht, 6. Aufl 2024, Herausgeber Bieresborn/Schafhausen - § 24 Rn 265ff).

12. Neben dem A-Kriterium müssen zur Diagnosestellung einer posttraumatischen Belastungsstörung die weiteren Kriterien B bis E vorgelegen haben. Beim B-Kriterium (Wiedererlebenskriterium) muss eines von fünf der Subkriterien erfüllt sein. Von den zwei C- (Vermeidungs-)Kriterien muss eins erfüllt sein. Beim D-Kriterium müssen hingegen zwei von sieben Subkriterien erfüllt sein. Bei den sechs E-Subkriterien nach DSM-5 (...

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