I. Vorgreiflichkeit der Streitwertvorschriften (Abs. 1 S. 1)

1. "Im gerichtlichen Verfahren"

 

Rz. 5

Wird ein Rechtsanwalt in einem gerichtlichen Verfahren tätig, richtet sich der Gegenstandswert grundsätzlich nach den für die Gerichtsgebühren geltenden Vorschriften.[3] Der Anwalt wird immer "im gerichtlichen Verfahren" tätig, wenn er Prozess- oder Verfahrensbevollmächtigter ist. Doch darauf ist die Vorschrift nicht beschränkt. Die Präposition "im" ist insoweit irreführend. Erfasst werden alle Fälle, in denen ein Anwalt "hinsichtlich" oder "bezüglich" eines gerichtlichen Verfahrens tätig wird, beispielsweise vor der Verweisung an ein anderes Gericht, vor dem er nicht auftritt.[4] Der Anwalt muss daher nicht vor oder gegenüber dem Gericht tätig werden. Es kommt nur darauf an, ob seine Tätigkeit eine Angelegenheit betrifft, die sich auf ein gerichtliches Verfahren bezieht. Dazu rechnen auch alle Tätigkeiten, die das gerichtliche Verfahren vorbereiten, begleiten, vermeiden oder abwickeln sollen, also auch solche, die während der Dauer des Rechtszugs außerhalb des Gerichts entfaltet werden, z.B. die Erteilung eines Rats für ein laufendes Verfahren durch einen Rechtsanwalt, der gegenüber dem Gericht nicht auftritt.[5] Voraussetzung ist, dass zwischen der ausgeübten und der gedachten späteren Tätigkeit ein innerer Zusammenhang besteht.[6]

 

Rz. 6

Ein häufig vorkommender Anwendungsfall ist der nicht gegenüber dem Gericht auftretende Verkehrsanwalt, der eine Gebühr in Höhe der Verfahrensgebühr des Verfahrensbevollmächtigten erhält und damit nach deren Streitwert abrechnen muss (VV 3400), oder der Anwalt, der von der Einlegung einer Berufung oder Revision abrät (VV 2100).

 

Rz. 7

Ist kein Rechtsstreit anhängig (§ 23 Abs. 1 S. 3), dann sind die gerichtlichen Streitwertvorschriften nur sinngemäß anzuwenden, weil es nicht zu einer Festsetzung im Rechtsstreit kommen kann.

[3] BGH 25.2.2015 – XII ZB 608/13, AGS 2015, 214 m. Anm. Mock = NJW-RR 2015, 643.
[4] OLG Neustadt Rpfleger 1966, 353.
[5] Mayer/Kroiß/Mayer, RVG, § 23 Rn 8 m.w.N.
[6] OLG München NJW 1965, 258.

2. Das Verfahren

 

Rz. 8

Zum "Verfahren" i.S.d. Abs. 1 gehören nicht nur die kontradiktorischen Erkenntnisverfahren, sondern alle in einer Prozessordnung geregelten Abläufe zur Herbeiführung einer Entscheidung. Erfasst werden grundsätzlich auch die Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit.[7]

 

Beispiele: Der Anwalt wird beauftragt mit der Erteilung eines Erbscheins[8] oder einer Eintragung im Handelsregister oder im Grundbuch. Der Verteidiger wird im Strafverfahren auch mit der Abwehr der nach §§ 403 ff. StPO erhobenen Ansprüche beauftragt (VV 4143 ff.). Der Anwalt wird in einem Betreuungsverfahren als Verfahrenspfleger damit beauftragt, einen vom Betreuer zur betreuungsgerichtlichen Genehmigung vorgelegten Mietvertrag zu überprüfen.[9]

 

Rz. 9

Gerichtliche Verfahren sind nicht nur diejenigen vor einem Richter i.S.d. Art. 92 GG, sondern auch solche vor dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder dem Rechtspfleger, wenn diese zum Rechtszug gehören (§§ 16, 19).

 

Rz. 10

Hierher gehört auch die Tätigkeit der Gerichtsvollzieher. Das ergibt sich schon daraus, dass richterliche Kompetenzen von Reform zu Reform nach und nach auf Gerichtsvollzieher verlagert worden sind, zuletzt beispielsweise die Abnahme der Vermögensauskunft vom Rechtspfleger auf den Gerichtsvollzieher (§ 802e ZPO). Es muss jedoch ein Zusammenhang mit einem gerichtlichen Verfahren bestehen wie z.B. bei der Zwangsvollstreckung. Zudem ergibt sich in Bezug auf das Entstehen einer Einigungsgebühr aus VV 1000 Abs. 1 S. 3, dass das Verfahren vor dem Gerichtsvollzieher einem gerichtlichen Verfahren gleichsteht.

 

Rz. 11

Verwaltungsbehörden sind keine Gerichte, so dass für sie ebenso wenig wie für nichtrichterliche Spruchkörper oder Gutachterausschüsse und dergleichen die für Gerichtsgebühren geltenden Wertvorschriften anwendbar sind. Ihre Tätigkeit ist kein "gerichtliches Verfahren".

 

Rz. 12

Anders verhält es sich, wenn das RVG für solche Sachverhalte selbst den Bezug zu gerichtlichen Wertvorschriften herstellt, wie etwa in § 36 für das schiedsrichterliche Verfahren.

 

Rz. 13

Kraft Gesetzes kann ein Verwaltungsverfahren allerdings notwendige Vorstufe eines gerichtlichen Verfahrens sein (siehe vor allem die §§ 68 ff. VwGO und §§ 78 ff. SGG). Dann wird der Anwalt "in" einem gerichtlichen Verfahren tätig.

[8] BGH 30.9.1968 – III ZB 11/67, NJW 1968, 2334.

3. Betragsrahmengebühren

 

Rz. 14

Unanwendbar ist § 23, soweit das RVG eine Vergütung nicht nach dem Gegenstandswert vorsieht, sondern nach einem Betragsrahmen (§ 23 Abs. 3 S. 1: "soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt"). So wird grundsätzlich in Straf- und Bußgeldsachen, in Verfahren nach VV Teil 6 und in Verfahren nach § 3 Abs. 1 S. 1 vor den Sozialgerichten nach Betragsrahmen abgerechnet. Dagegen ist § 23 anwendbar in sozialgerichtlichen Verfahren nach § 3 Abs. 1 S. 2 sowie in Strafsachen, sofern hier ausnahmsweise Wertgebühren gewährt werden (VV 4142, 4143, 5115; VV Vorb. 4 ...

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