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Folgen mehrere Anrechnungsvorgänge hintereinander (sog. "Kettenanrechnungen"), wird zum Teil die Auffassung vertreten, anzurechnen sei nur das nach Anrechnung verbleibende Gebührenaufkommen, da ja nicht mehr angerechnet werden könne, als der Anwalt erhalten habe. Dies ist jedoch unzutreffend und widerspricht dem eindeutigen Wortlaut des § 15a Abs. 1, wonach jede Gebühr selbstständig ist und der Anwalt nicht als das um die Anrechnung verminderte Gesamtaufkommen verlangen kann.[20]

 

Beispiel: Der Anwalt ist zunächst in einer Baumängelsache außergerichtlich tätig (Gegenstandswert: 30.000 EUR). Die Sache ist sehr umfangreich, sodass eine 2,0-Gebühr angemessen sei. Anschließend führt der Anwalt das selbstständige Beweisverfahren durch. Es findet ein Sachverständigentermin statt, an dem er teilnimmt. Hiernach kommt es zum Hauptsacheverfahren, in dem nach mündlicher Verhandlung ein Urteil ergeht.

Die 2,0-Geschäftsgebühr ist auf die Verfahrensgebühr des selbstständigen Beweisverfahrens mit dem Höchstsatz von 0,75 anzurechnen (VV Vorb. 3 Abs. 4), da das selbstständige Beweisverfahren das erste nachfolgende gerichtliche Verfahren nach VV Teil 3 ist.[21]

Im Hauptsacheverfahren ist dann nach VV Vorb. 3 Abs. 5 die volle – und nicht nur die um die Anrechnung verminderte – Verfahrensgebühr des selbstständigen Beweisverfahrens auf die Verfahrensgebühr des Rechtsstreits anzurechnen.[22]

 
I. Außergerichtliche Vertretung (Wert: 30.000 EUR)    
1. 2,0-Geschäftsgebühr, VV 2300   1.910,00 EUR
2. Postentgeltpauschale, VV 7002   20,00 EUR
  Zwischensumme 1.930,00 EUR  
3. 19 % Umsatzsteuer, VV 7008   366,70 EUR
Gesamt   2.296,70 EUR
II. Selbstständiges Beweisverfahren (Wert: 30.000 EUR)    
1. 1,3-Verfahrensgebühr, VV 3100   1.241,50 EUR
2. gem. VV Vorb. 3 Abs. 4 anzurechnen, 0,75 aus 30.000 EUR   – 716,25 EUR
3. 1,2-Terminsgebühr, VV 3104   1.146,00 EUR
4. Postentgeltpauschale, VV 7002   20,00 EUR
  Zwischensumme 1.691,25 EUR  
5. 19 % Umsatzsteuer, VV 7008   321,34 EUR
Gesamt   2.012,59 EUR
III. Rechtsstreit (Wert: 30.000 EUR)    
1. 1,3-Verfahrensgebühr, VV 3100   1.241,50 EUR
2. gem. VV Vorb. 3 Abs. 5 anzurechnen, 1,3 aus 30.000 EUR   – 1.241,50 EUR
3. 1,2-Terminsgebühr, VV 3104   1.146,00 EUR
4. Postentgeltpauschale, VV 7002   20,00 EUR
  Zwischensumme 1.160,00 EUR  
5. 19 % Umsatzsteuer, VV 7008   221,54 EUR
Gesamt   1.381,54 EUR
 

Beispiel: Der Anwalt macht für seinen Mandanten außergerichtlich eine Forderung in Höhe von 10.000 EUR geltend. Hiernach wird ein Mahnbescheid erwirkt, gegen den der Antragsgegner Widerspruch einlegt, sodass das streitige Verfahren folgt.

Außergerichtlich war eine 1,3-Geschäftsgebühr VV 2300 aus 10.000 EUR angefallen.

Im Mahnverfahren ist eine 1,0-Verfahrensgebühr (VV 3305) entstanden, auf die die Geschäftsgebühr hälftig anzurechnen ist.

Im streitigen Verfahren ist eine 1,3-Verfahrensgebühr (VV 3100) angefallen, auf die wiederum die Verfahrensgebühr des Mahnverfahrens anzurechnen ist (Anm. zu VV 3305), und zwar in voller Höhe und nicht nur in Höhe des verbleibenden Betrags nach Anrechnung.

 
I. Außergerichtliche Vertretung (Wert: 10.000 EUR)    
1. 1,3-Geschäftsgebühr, VV 2300   798,20 EUR
2. Postentgeltpauschale, VV 7002   20,00 EUR
  Zwischensumme 818,20 EUR  
3. Umsatzsteuer, VV 7008   155,46 EUR
Gesamt   973,66 EUR
II. Mahnverfahren (Wert: 10.000 EUR)    
1. 1,0-Verfahrensgebühr, VV 3305   614,00 EUR
2. anzurechnen gem. VV Vorb. 3 Abs. 4, 0,65 aus 10.000 EUR   – 399,10 EUR
3. Postentgeltpauschale, VV 7002   20,00 EUR
  Zwischensumme 234,90 EUR  
4. Umsatzsteuer, VV 7008   44,63 EUR
Gesamt   279,53 EUR
III. Rechtsstreit (Wert: 10.000 EUR)    
1. 1,3-Verfahrensgebühr, VV 3100   798,20 EUR
2. anzurechnen gem. Anm. zu VV 3305, 1,0 aus 10.000 EUR   – 614,00 EUR
3. 1,2-Terminsgebühr, VV 3104   736,80 EUR
4. Postentgeltpauschale, VV 7002   20,00 EUR
  Zwischensumme 941,00 EUR  
5. Umsatzsteuer, VV 7008   178,79 EUR
Gesamt   1.119,79 EUR
[20] BGH 28.10.2010 – VII ZB 116/09, AGS 2010, 621 = NJW 2011, 1368; OLG Hamm AGS 2014, 453 = RVGreport 2015, 101 = zfs 2015, 167.
[21] OLG Stuttgart AGS 2008, 383.
[22] OLG Hamm AGS 2014, 453 = RVGreport 2015, 101 = zfs 2015, 167; so im Ergebnis, wenn auch mit anderer Anrechnungsreihenfolge: OLG Stuttgart AGS 2008, 384 = RVGreport 2009, 100 = JurBüro 2008, 526; OLG München AGS 2009, 438 = JurBüro 2009, 475.

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