Rz. 154

Für die Praxis ist – soweit der Anwalt sich nicht an angebotene Abrechnungsgrundsätze der Versicherer gebunden hat – folgendes zu beachten: Soweit die Gerichte teilweise eine nicht näher begründete 1,3-Geschäftsgebühr unbeanstandet lassen, nur weil sich die Tätigkeit auf einen Verkehrsunfall bezog, wird dies im Wesentlichen damit begründet, dass Verkehrsunfälle ein Massenphänomen darstellen, die man schematisch handhaben müsse und das RVG trotz der Wegfalls von Besprechungs- und Beweisaufnahmegebühr keine Gebühreneinbuße zur Folge haben sollte.[244]

 

Rz. 155

Für den schematischen Ansatz einer 1,3-Geschäftsgebühr bei Unfallregulierungen sind beide Thesen nicht recht überzeugend. Die Regelung zur Bestimmung der Rahmengebühr in § 14 Abs. 1 basiert auf einer Abwägung aller Umstände des Einzelfalls. Warum gerade die Abwicklung von Verkehrsunfällen – mögen sie auch ein Massenphänomen darstellen – diesem Abwägungsgebot nicht unterfallen soll, ist nicht ersichtlich. Eine pauschale Abrechnung in bestimmten Rechtsgebieten sieht Abs. 1 nicht vor. Die weiter aufgestellte These, die Abwicklung eines Verkehrsunfalls sei deshalb generell eine durchschnittlich schwierige und umfangreiche Angelegenheit, da das RVG nicht zu Gebühreneinbußen führen sollte, vermag ebenfalls nicht zu überzeugen. Durch den Wegfall der Besprechungs- und Beweisaufnahmegebühr ergibt sich insofern keine Gebührenminderung für den Anwalt, als er den konkret erhöhten Aufwand bei der Gebührenbestimmung aus dem Rahmen von VV 2300 geltend machen kann. Soweit dieser Aufwand allerdings nicht vorliegt, weil es keine Besprechung, keine Ortsbesichtigung etc. gegeben hat, war weder nach der BRAGO noch ist nach dem RVG eine im Bereich von 1,3 liegende Gebühr gerechtfertigt.

 

Rz. 156

Auch wenn eine Vielzahl von Entscheidungen dies suggeriert:[245] Den typischen "durchschnittlichen" Verkehrsunfall und eine typische Geschäftsgebühr in Höhe von 1,3 für dessen außergerichtliche Regulierung gibt es nicht.[246] Da die Regelung des § 14 Abs. 1 nicht allein auf die vom Anwalt zu bearbeitende Materie abstellt, sondern auf verschiedene Einzelkriterien, bleibt es dabei, dass sich der Anwalt bei der Gebührenforderung – schon aus Gründen der Vorsicht – nicht schlicht auf die Darlegung beschränken sollte, dass er eine Unfallschadensregulierung vorgenommen habe.

 

Rz. 157

Geht man von einem in jeder Hinsicht unterdurchschnittlichen Verkehrsunfall aus, nämlich einem Unfall mit folgenden Merkmalen:

Unfallverlauf unstreitig,
Schäden eindeutig feststellbar,
keine Rückfragen an Gutachter erforderlich,
einfaches Anspruchsschreiben an Versicherer,
Versicherer erkennt Haftung zu 100 % an,
Regulierung erfolgt unproblematisch und innerhalb kurzer Zeit (1 bis 2 Wochen),
keine weiteren Probleme des Mandanten (z.B. Differenzbesteuerung, Mietwagen, Totalschaden etc.),

der höchstens mit einer 0,8 bis 0,9-Geschäftsgebühr abzurechnen sein dürfte,[247] so können weitere Umstände dazu führen, dass der Anwalt eine Gebühr von bis zu 1,3 verlangen kann.

 

Rz. 158

Eine Gebühr in Höhe von 1,3 kann gefordert werden, wenn ein regelmäßiger und durchschnittlicher Arbeitsumfang vorliegt.[248] Dies ist zu bejahen, wenn:

ein persönliches oder telefonisches Erstgespräch mit dem Mandanten geführt wird,
in diesem Erstgespräch der Sachverhalt, Haftungsgrund und Schadenshöhe festgestellt werden,
die sich daraus ergebene Beurteilung der Rechtslage erfolgt,
der Anwalt die Schadenregulierung steuernde tatsächliche Hinweise oder rechtliche Ratschläge an den Mandanten erteilt,
das Anspruchsschreiben an den gegnerischen Haftpflichtversicherer mit der Darlegung von Haftungsgrund und Schadenspositionen mit Dokumentation fertigt,
die Reaktion des Haftpflichtversicherers überwacht und dem Mandanten bewertend weiterleitet,
seine Vergütung unter Anwendung der Vorschriften des RVG abrechnet und den Vollzug der Vergütungsberechnung überwacht.

Liegt ein solcher durchschnittlicher Arbeitsumfang vor, ist zu prüfen, ob die Angelegenheit darüber hinaus umfangreich oder schwierig war und damit die Schwellengebühr nach der Anm. zu VV 2300 überschritten werden darf.

 

Rz. 159

Ein abschließender Katalog von Umständen, bei deren Vorliegen die Angelegenheit regelmäßig als umfangreich bzw. schwierig einzustufen ist, kann in diesem Zusammenhang sicherlich nicht aufgestellt werden. Dazu ist die anwaltliche Tätigkeit in diesem Bereich einfach zu vielschichtig. Jedoch kann man einen beispielhaften Katalog von Einzelumständen aufstellen, der in der Praxis als Orientierung dient. Solche Einzelumstände können beispielsweise sein:[249]

Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Geschädigten sowie Bedeutung der Angelegenheit für ihn,[250] insbesondere im Hinblick auf die Höhe des Sachschadens;
mehrere Besprechungen mit dem Mandanten oder Besprechungen außerhalb der Bürozeiten;[251]
erhöhter Beratungs- und Besprechungsaufwand wegen Unfallflucht des Gegners;[252]
schwierige Besprechung mangels Sprachkenntnissen des Mandanten...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge