Rz. 84

Für den Geltungsbereich des RVG hat die Rechtsprechung die Toleranzgrenze von 20 % unverändert übernommen.[168] Das gilt auch für das Festsetzungsverfahren.[169] Dagegen wird im Schrifttum[170] geltend gemacht, dass gegenüber § 118 BRAGO, der einen Gebührenrahmen von 5/10 bis 10/10 vorsah, unter der Geltung des RVG der Rahmen der Gebührenbemessung bei der außergerichtlichen Vertretung mit ihrem Gebührenrahmen von 0,5 bis 2,5 erheblich vergrößert worden sei. Diese Wertentscheidung des Reformgesetzgebers müsse konsequenterweise eine Erhöhung des Toleranzbereiches auf 30 % zur Folge haben.

 

Rz. 85

Diese Forderung nach einer Erweiterung des Toleranzbereichs begegnet allerdings Bedenken. Man mag gegen einen prozentualen Aufschlag im Bereich einer Ermessensüberprüfung schon grundsätzlich Einwände haben – diese können jedoch nicht darüber hinweghelfen, dass die Praxis ein brauchbareres Instrumentarium zur Überprüfung der Gebührenbestimmung (noch) nicht gefunden hat. Sie wird also weiter mit einem Toleranzbereich arbeiten, ohne nachvollziehbar begründen zu können, warum eine um 20 % höhere Gebühr noch billig ist, eine um 28 % oder 30 % erhöhte Gebühr dagegen nicht mehr. Allerdings stellt sich die Frage, ob – wie von der oben dargestellten Literaturmeinung gefordert – gerade aufgrund der Einführung des RVG der Toleranzbereich erweitert werden darf. Dabei ist zunächst zwischen den zivil- und verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten nach VV Teil 2 sowie den straf- und bußgeldrechtlichen Angelegenheiten nach VV Teil 4 und 5 zu unterscheiden

 

Rz. 86

Bei den Betragsrahmengebühren in straf- und bußgeldrechtlichen Angelegenheiten ist eine Erweiterung des Toleranzbereiches aufgrund eines vergrößerten Gebührenrahmens nicht zu rechtfertigen. Denn das Verhältnis von Höchst- zu Mindestgebühr, also die Spannweite des Gebührenrahmens, hat sich durch die Einführung des RVG im Vergleich zur BRAGO nicht wesentlich verändert. Zwar ist das Gebührensystem – insbesondere in Bußgeldsachen – weitgehend neu gestaltet worden. Die maßgeblichen Betragsrahmengebühren weisen jedoch in ihrer Spannweite keine relevanten Unterschiede auf.

 

Rz. 87

Bei den zivil- und verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten kann im Hinblick auf die Satzrahmengebühr des VV 2300 dagegen durchaus eine erhebliche Erweiterung des Gebührenrahmens festgestellt werden. Jungbauer[171] lehnt eine daraus abgeleitete Erweiterung des Toleranzbereiches schon aus dem Grund ab, dass sich der Toleranzbereich von 20 % nicht auf den Rahmen beziehe, sondern vielmehr auf die vom Anwalt nach seinem Ermessen festgelegte Gebühr. Dem ist zuzustimmen, da es beim Toleranzbereich um die Frage geht, wie stark die vom Anwalt aus einem Rahmen bestimmte Gebühr von einer Gebühr abweichen darf, die ein Gericht bei objektiver Überprüfung der Gebührenbestimmung gerade aus diesem Gebührenrahmen für billig hält. Da es bei § 14 Abs. 1 (auch) um subjektive Wertungen geht, gibt es regelmäßig nicht nur eine einzige "angemessene Gebühr", sondern einen gewissen Spielraum für die Gebührenbestimmung des Anwalts. Die vom Gericht bzw. vom Erstattungspflichtigen zu tolerierende Abweichung kann aber nicht deshalb noch höher festgesetzt werden, weil der Anwalt nunmehr die Geschäftsgebühr aus einem weiteren Rahmen bestimmen kann.

 

Rz. 88

Zwar ist zuzugeben, dass bei einer Spannweite des Gebührenrahmens von 0,5 bis 2,5 das Risiko des Anwalts, bei der Gebührenbestimmung "daneben zu liegen", zunächst einmal höher erscheint als bei einem Gebührenrahmen von 5/10 bis 10/10. Auch diese Überlegung verfängt jedoch letztlich nicht, da bei der Frage, ob die Erweiterung des Toleranzbereichs gerechtfertigt ist, auch die Entstehungsgeschichte des neuen Gebührenrahmens nach VV 2300 sowie dessen konkrete Ausgestaltung berücksichtigt werden muss: Nach § 118 Abs. 1 BRAGO konnte der Anwalt für die außergerichtliche Vertretung des Auftraggebers eine Geschäfts-, Besprechungs- und Beweisaufnahmegebühr i.H.v. jeweils 5/10 bis 10/10 der vollen Gebühr verdienen. Da im RVG nicht mehr drei verschiedene Gebührentatbestände, sondern nur noch eine einheitliche Geschäftsgebühr existiert, musste diese zwangsläufig einen entsprechend weiteren Rahmen aufweisen, um den unterschiedlichsten anwaltlichen Tätigkeiten Raum zu bieten. Im Unterschied zur früheren Regelung ist darüber hinaus in der Anmerkung zu VV 2300 zusätzlich ein Schwellenwert eingeführt worden, der die Geschäftsgebühr auf maximal 1,3 begrenzt, soweit die Angelegenheit weder umfangreich noch schwierig war. Dies spiegelt die frühere Rechtslage wieder: Ohne Durchführung einer Besprechung oder einer Beweisaufnahme, welche die Angelegenheit regelmäßig zeitaufwendig bzw. schwierig werden ließen, musste der Anwalt nach der BRAGO seine Gebühr aus einem Rahmen von 5/10 bis 10/10 bestimmen.

Auch der nun nach dem RVG abrechnende Anwalt ist durch den Schwellenwert bei Angelegenheiten, die weder umfangreich noch schwierig sind, auf eine Gebührenbestimmung innerhalb eines Rahmens von 0,5 bis 1,3 beschränkt....

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