Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Kompensation überlanger Verfahrensdauer bei Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gemäß § 153 Abs. 1 StPO

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zu einer unangemessenen Dauer eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens kann es führen, wenn nach einleitenden grundrechtsintensiven und öffentlichkeitswirksamen Ermittlungsmaßnahmen das Verfahren nicht mit der gebotenen Konsequenz fortgeführt wird.

2. Im Strafverfahren reicht zur Kompensation der unangemessenen Verfahrensdauer deren "zugunsten des Beschuldigten" erfolgende "Berücksichtigung" aus (§ 199 Abs. 3 Satz 1 GVG). Im Falle der - zumeist nicht nach außen gesondert begründeten - Einstellung eines Verfahrens ist allerdings Voraussetzung, dass die Art der "Berücksichtigung" nach dem Kontext des Einzelfalls hinreichend identifzierbar und die unangemessene Verfahrensdauer ein prägender Grund für die Einstellung ist. Auch muss die Einstellung sich für die oder den Beschuldigten vorteilhaft, mithin "zugunsten", auswirken.

 

Normenkette

GVG §§ 198, 199 Abs. 3 S. 1; StPO § 153 Abs. 1

 

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass das zum Az. 590 Js 55233/15 StA Kiel gegen die Klägerin geführte staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren unangemessen lange gedauert hat.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Verfahrens fallen dem Beklagten zur Last.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Jedoch kann der Beklagte die Vollstreckung der Klägerin gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Klägerin Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.

5. Der Gegenstandswert des Verfahrens wird auf 2.300,00 EUR festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung der unangemessenen Dauer eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens und die Zahlung einer angemessenen Entschädigung durch das beklagte Land Schleswig-Holstein.

Die Klägerin war neben dem gesondert auftretenden Kläger K. J. Beschuldigte in dem von der Staatsanwaltschaft Kiel seit dem 26. Oktober 2015 geführten Verfahren mit dem Az.: 590 Js 55233/15. Die Ermittlungen hatten den Vorwurf des Betruges durch möglicherweise fehlerhafte Abrechnung drittmittelgeförderter Projekte zum Gegenstand. Das Ermittlungsverfahren wurde nach Zustimmung des Amtsgerichts Kiel durch die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel nach drei Jahren und acht Monaten im Juni 2019 gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellt.

Der Klage liegt folgender Gang des Ermittlungsverfahrens zugrunde:

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft begannen nach einer Strafanzeige vom 25. Oktober 2015 durch einen früheren Mitarbeiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD), S.-O. P.. Der Anzeigende warf der Klägerin als Leiterin des ULD und dem Mitarbeiter J. Betrug bei der Abrechnung von Fördermitteln vor. Der damals zuständige Dezernent, Staatsanwalt Dr. N., nahm am 26. Oktober 2015 die Ermittlungen auf. Zunächst fragte der Dezernent mit Schreiben vom 3. November 2015 im Rahmen eines Vorprüfungsverfahrens bei dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) - einem der Fördermittelgeber - nach den Abrechnungsmodalitäten drittmittelgeförderter Projekte, wobei er konkrete Angaben zu möglichen Taten nicht machte. Aufgrund ihm lediglich telefonisch mitgeteilter Auskünfte des BMBF leitete der Dezernent sodann am 9. November 2015 förmliche Ermittlungen gegen die Klägerin ein. Am selben Tag wurde ein Durchsuchungsbeschluss bei dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Kiel beantragt, den dieser am 16. November 2015 erließ.

Die Klägerin erfuhr von diesen Ermittlungen am 4. Dezember 2015 am Tag der Durchsuchung ihrer Diensträume, anlässlich derer sie selbst und der gesondert als Kläger auftretende K. J. auch als Beschuldigte vernommen wurden. In der Folgezeit erfolgten Auswertungen von E-Mails und das Anlegen von Fallakten, Auswertungen arbeitsgerichtlicher Akten sowie mehrere Zeugenvernehmungen durch die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt (LKA) in Kiel, Saarbrücken und Karlsruhe am 4. Dezember 2015, 19. Februar 2016 und 22. März 2016. Ein Zwischenbericht über die bisher gewonnenen Ermittlungsergebnisse des LKA datiert vom 16. August 2016.

Zum 30. Juni 2016 verließ Staatsanwalt Dr. N. die Staatsanwaltschaft Kiel, zuständig wurde als Dezernatsnachfolger Staatsanwalt B.. In der Folgezeit wurden nach Rücksprache noch mit Staatsanwalt Dr. N. Fallakten für einzelne Projekte angelegt sowie weitere Unterlagen durch das LKA ausgewertet.

Mit Schreiben vom 21. April 2017 erhob der Verteidiger der Klägerin Verzögerungsrüge. Mit Schreiben vom 1. August 2017 teilte die Leitende Oberstaatsanwältin der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel dem Verteidiger mit, dass die nach ihrer Einschätzung weiter erforderlichen Ermittlungen in Abstimmung mit ihr "prioritär geführt" würden, allerdings ein Abschluss der Ermittlungen noch nicht abgesehen werden könne.

In der Zeit vom 20. September...

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