Leitsatz (amtlich)

1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird nur gewährt, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, eine Notfrist einzuhalten. Dabei muss sich die Partei nach § 85 Abs. 2 ZPO das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Es gilt der berufsbedingt strenge Sorgfaltsmaßstab, sodass insoweit regelmäßig eine Fristversäumnis verschuldet ist, wenn sie für einen pflichtbewussten Rechtsanwalt abwendbar gewesen wäre.

2. Die Berufungsschrift darf nicht beim Ausgangsgericht, sondern muss beim zuständigen Berufungsgericht (in diesem Fall beim OLG Schleswig) eingelegt werden. Ein Rechtsanwalt hat durch entsprechende organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht.

3. Seit dem 01.01.2022 müssen vorbereitende Schriftsätze gemäß § 130 d ZPO als elektronisches Dokument eingereicht werden. Gemäß § 130 a Abs. 5 S. 2 ZPO wird dem Absender nach der Übermittlung eine "automatisierte Bestätigung" über den Zeitpunkt des Eingangs mitgeteilt.

4. Das Fristenwesen einer Anwaltskanzlei muss sicherstellen, dass dem Rechtsanwalt die Akten von Verfahren, in denen Rechtsmittelfristen laufen, rechtzeitig vorgelegt werden und zusätzlich eine Ausgangskontrolle schaffen, durch die zuverlässig gewährleistet wird, dass fristwahrende Schriftsätze auch tatsächlich an das zuständige Gericht rechtzeitig hinausgehen. Dabei ist die für die Kontrolle zuständige Bürokraft anzuweisen, dass Fristen im Kalender erst dann als erledigt zu kennzeichnen sind, nachdem sie sich anhand der Akte selbst vergewissert hat, dass zweifelsfrei nichts mehr zu veranlassen ist. Schließlich gehört zu einer wirksamen Fristenkontrolle auch eine Weisung, dass die Erledigung der fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders nochmals und abschließend selbstständig überprüft wird. Das Erfordernis der allabendlichen Fristenkontrolle hat gerade den Sinn, durch eine doppelte Prüfung möglichst alle Fehlerquellen bei der Einhaltung von Fristen auszuschließen.

5. Eine wirksame Fristen- und Ausgangskontrolle darf nicht nur mit der bloßen Anwaltssoftware (hier "RA-Micro") erfolgen, sondern erfordert auch einen Vergleich anhand des Fristenkalenders und der Handakte. Das Büropersonal ist bereits vor Anfertigung und Verarbeitung der Berufungsschrift anzuweisen, in der entsprechenden Anwaltssoftware (hier "RA-Micro") das zuständige Berufungsgericht einzupflegen.

6. Die Ursächlichkeit einer falschen Gerichtsadressierung entfällt lediglich dann, wenn ein an sich schuldhaftes Verhalten sich wegen eines Fehlers des unzuständigen Gerichts nicht entscheidend auswirkt. Kausalität wäre in diesem Fall nur dann nicht gegeben, wenn die Fristversäumnis bei pflichtgemäßer Weiterleitung des Schreibens an das zuständige Gericht vermieden worden wäre. Das wäre aber nur dann der Fall, wenn die fristgerechte Weiterleitung an das zuständige Gericht im ordentlichen Geschäftsgang erwartet werden konnte.

7. Versäumnis der Berufungsfrist durch Übersendung an ein unzuständiges Gericht: Die allabendliche Fristenkontrolle hat gerade den Sinn, durch eine doppelte Prüfung möglichst alle Fehlerquellen bei der Einhaltung von Fristen auszuschließen. Das Büropersonal ist bereits vor Anfertigung und Verarbeitung der Berufungsschrift anzuweisen, in der entsprechenden Anwaltssoftware das zuständige Berufungsgericht einzupflegen.

 

Normenkette

ZPO §§ 85, 130a Abs. 5 S. 2, §§ 130d, 233, 234 Abs. 1, §§ 517, 519, 522 Abs. 1 S. 2

 

Tenor

1. Der Antrag des Klägers vom 20.09.2022 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Berufungsfrist wird als unbegründet zurückgewiesen.

2. Die Berufung des Klägers gegen das am 12.08.2022 verkündete und am 15.08.2022 zugestellte Urteil des Einzelrichters der 12. Zivilkammer des Landgerichts Kiel wird als unzulässig verworfen, weil sie nicht innerhalb der Berufungsfrist beim zuständigen Oberlandesgericht Schleswig eingegangen ist.

3. Der Kläger trägt die Kosten der Berufung einschließlich der notwendigen Auslagen der Streithelferin.

4. Der Streitwert für den zweiten Rechtszug wird auf 15.903,04 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Kläger nimmt die Beklagten auf Schadenersatz aufgrund eines behaupteten Verkehrsunfalls in Anspruch, der sich am ...2020 in N. ereignet haben soll. Dabei soll der Porsche Panamera 4S (amtliches Kennzeichen ..., Erstzulassung ...2009), den seine Ehefrau von seinem Bruder erworben haben will, beschädigt worden sein. Die Ehefrau des Klägers hat sämtliche Ansprüche an den Kläger abgetreten. Der Kläger beantragt Schadenersatz in Höhe von insgesamt 15.903,04 EUR.

Die Beklagte zu 2. bestreitet den Unfallhergang mit Nichtwissen. Die Beklagte zu 1. hat behauptet, dass es sich um einen gestellten Unfall gehandelt haben soll und dass der Kilometerstand bei dem Porsche Panamera manipuliert worden sei.

Mit dem angefochtenen Urteil vom 12.08.2022 hat das Landgericht die Klage abgewie...

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