Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Unterkunftskosten. Rauswurf des volljährigen Kindes aus elterlicher Wohnung. keine Kürzung der Regelleistung. Zusicherungserfordernis. Zumutbarkeit. schwerwiegender sozialer Grund. Indiz. keine Absicht der Herbeiführung der Leistungsgewährung

 

Orientierungssatz

1. Aus systematischen Gründen ist § 20 Abs 2a SGB 2 in den Fällen nicht anzuwenden, in denen nach § 22 Abs 2a S 3 SGB 2 vom Erfordernis einer Zusicherung des kommunalen Trägers abgesehen werden kann, weil § 20 Abs 2a SGB 2 pauschal auf die Regelung des § 22 Abs 2a SGB 2 und damit auch auf § 22 Abs 2a S 3 SGB 2 verweist, wonach unter den Voraussetzungen des § 22 Abs 2a S 2 SGB 2 vom Zusicherungserfordernis abgesehen werden kann, wenn es dem Betroffenen aus wichtigem Grund nicht zumutbar war, die Zusicherung einzuholen.

2. Ein schwerwiegender sozialer Grund, der die vorherige Zusicherung des kommunalen Trägers gem § 22 Abs 2a S 2 Nr 1 SGB 2 entbehrlich macht, kann sich aus einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung ergeben, die die Verweisung auf eine Rückkehr in die elterliche Wohnung unzumutbar macht. Die Anforderungen an den Schweregrad der Störung dürfen dabei nicht überzogen werden (hier: endgültiger Rauswurf des volljährigen Kindes aus elterlicher Wohnung und Abnahme der Wohnungsschlüssel) (vgl BSG vom 2.6.2004 - B 7 AL 38/03 R = BSGE 93, 42 = SozR 4-4300 § 64 Nr 1).

3. Die Einschaltung des Jugendamtes durch den Hilfebedürftigen stellt dabei ein Indiz für eine schwere Störung der Eltern-Kind-Beziehung dar.

4. Die "Absicht", die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistungen herbeizuführen, geht über die vorsätzliche oder grob fahrlässige Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit in § 34 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB 2 hinaus. Vielmehr erfordert sie ein finales, auf den Erfolg gerichtetes Verhalten, bei dem die Schaffung der Voraussetzungen für die Leistungsgewährung das für den Umzug prägende Motiv gewesen sein muss. Es genügt mithin nicht, dass der Leistungsbezug lediglich beiläufig verfolgt oder anderen Umzugszwecken untergeordnet und in diesem Sinne nur billigend in Kauf genommen wird.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die vorläufige Bewilligung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum ab 01.10.2007.

Die 1989 geborene Antragstellerin (Ast.) ist nach zahlreichen Auseinandersetzungen von ihrer Mutter aus der gemeinsam bewohnten Wohnung in B. geworfen worden. Daraufhin hat sie ihr Freund D. G. in seine Wohnung in B. aufgenommen. Nachdem er die Miete für diese Wohnung nicht mehr zahlen konnte, sind er und die Ast. gemeinsam in die Wohnung der Eltern von D. G. in D. gezogen.

Die Ast. beantragte am 18.09.2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mit Wirkung vom 01.10.2007 bei der Antragsgegnerin (Ag.). Mit Schreiben vom 05.10.2007 wies die Ag. die Ast. darauf hin, vor der Entscheidung über ihren Antrag seien u. a. noch der Bescheid über Kindergeld und Kontoauszüge der letzten drei Monate vorzulegen. Diese Unterlagen reichte die Ast. am 18.10.2007 ein. Am 18.10.2007 fertigte eine Mitarbeiterin der Ag. folgenden Vermerk: “Vorhergehender Vermerk hat sich erledigt. Kundin entscheidet sich, nach B. zurückzuziehen.„ Bei einer Vorsprache der Ast. am 24.10.2007 teilte eine Mitarbeiterin der Ag. ihr mit, sie habe ihren Antrag am 18.10.2007 mündlich zurückgenommen.

Am selben Tag hat die Ast. einen Antrag auf einstweilige Anordnung beim Sozialgericht Dresden (SG) gestellt. Sie habe keinerlei finanzielle Reserven mehr und lebe derzeit bei Bekannten. Dies sei auf Dauer nicht zumutbar.

Die Ag. hat mit Schreiben vom 05.11.2007 ein Teilanerkenntnis abgegeben. Sie hat sich bereiterklärt, der Ast. ab 24.10.2007 vorläufig Leistungen in Höhe von 80 % der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 SGB II zu gewähren. Die Ast. hat dieses Teilanerkenntnis angenommen. Die Ag. hat der Ast. - das Teilanerkenntnis umsetzend - mit Bescheid vom 15.11.2007 für den Zeitraum vom 18.09.2007 bis 30.09.2007 Leistungen in Höhe von 120,47 € und für den Zeitraum vom 01.10.2007 bis 29.02.2008 in Höhe von 278,00 € bewilligt.

Das SG hat die Ag. mit Beschluss vom 09.11.2007 verpflichtet, der Ast. ab 24.10.2007 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 278,00 € monatlich zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag der Ast. abgewiesen. Nach den beigezogenen Unterlagen sei nicht zweifelhaft, dass die Ast. zum Kreis der Berechtigten im Sinne des § 7 SGB II gehöre. Sie sei auch hilfebedürftig im Sinne von § 9 Abs. 1 SGB II, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend aus eigenen Kräften oder Mitteln sichern könne und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhalte. Nachdem die Ag. sich bereiterklärt habe, der Ast. ab 24.10.2007 vorläufig Leistungen in Höhe von 278,00 € monatlich zu gewähren, fehle es an einem Anordnungsgrund. Ihr drohten keine schweren und unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Beeint...

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