Rn 24

Im Zusammenhang mit der Abgasproblematik lässt sich argumentieren, dass in der fehlenden Aufklärung über eine unzulässige Abschaltvorrichtung ein grob leichtfertiges, gewissenloses Verhalten des Herstellers liegen kann (dazu ausf Schaub NJW 20, 1028, 1028 f mwN). Nachdem die Annahme von Sittenwidrigkeit jedenfalls in den ›klassischen‹ Diesel-Fällen nicht mehr infrage gestellt wird (s allerdings die Vorlagen an den EuGH zu Fragen der Unionsrechtswidrigkeit der relativ hohen Anforderungen an den Schadensersatz nach § 826: LG Ravensburg BeckRS 21, 1938; 4922; 7681; LG Erfurt BeckRS 21, 42707), verlagern sich die Prozesse nunmehr auf andere Probleme, insb auf abweichende Fallkonstellationen, auf Beweis- und Zurechnungsfragen sowie den Umfang des Schadensersatzes (Überblick zu wesentlichen Schritten in der Argumentation des BGH bei Syrbe NZV 21, 225 ff; 22, 153 ff und zur bisherigen Rspr bei Sievers DAR 21, 532 ff; 669 ff; 22, 526 ff; Menhofer NJW 21, 3692 ff; Buck-Heeb WM 22, 845 ff, 893 ff) und auf Verjährungsfragen einschließlich einer Anwendung von § 852. Eine nicht geringe Rolle spielt für die Praxis auch die mit Hilfe von Legal Tech generierte Vielzahl paralleler Einzelklagen (dazu allg Engler Die Bedeutung der unechten Legal Tech-Sammelklagen für den kollektiven Rechtsschutz 22), von welchen deutlicher Druck auf das System der Ziviljustiz ausgeht.

 

Rn 24a

Eine Annahme von Sittenwidrigkeit ist – mit Blick auf den Maßstab, der gerade bei Aufklärungspflichten nicht allzu hoch angesetzt wird – va dann denkbar, wenn die eingebauten Abschalteinrichtungen von einem System der Verschleierung dieser Maßnahme insb mit Blick auf die zulassungsrechtliche Problematik flankiert wurden. Nach Ansicht des BGH weisen Fahrzeuge mit einer unzulässigen Abschaltvorrichtung einen Mangel iSd § 434 I 2 Nr 2 aF auf (BGH NJW 19, 1133 Rz 4 ff, krit dazu Pfeiffer NJW 19, 3337, 3342; bestätigt in BGH NJW 20, 1740 Rz 13; weiterhin zB BGH ZIP 21, 1816 Rz 13), dies dürfte auf § 434 III 1 Nr 2 übertragbar sein. Der BGH bejaht in zahlreichen VW-Fällen die Sittenwidrigkeit, weil der Hersteller im Rahmen einer von ihm bei der Motorenentwicklung getroffenen strategischen Entscheidung, die Typengenehmigungen der Fahrzeuge durch arglistige Täuschung des KBA zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge alsdann in Verkehr zu bringen, die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt ausgenutzt habe (BGHZ 225, 316 Rz 16 ff; weiterhin BGH NJW 20, 2805 Rz 12 f; 2806 Rz 11 f; 21, 918 Rz 19; 1669 Rz 19; r+s 21, 651 Rz 21 – im konkreten Fall abgelehnt; BeckRS 21, 37454 Rz 10; 40781 Rz 19 ff; 40868 Rz 18 ff; 40834 Rz 18 ff; VersR 22, 521 Rz 20 ff; BB 22, 78 Rz 20 ff; BGHZ 233, 16 Rz 25; ZIP 22, 1979 Rz 10; VersR 22, 652 Rz 14 ff; 1463 Rz 9; VII ZR 452/21 Rz 21 f – im konkreten Fall abgelehnt; ZIP 22, 2181 Rz 13 ff; VII ZR 499/21 Rz 12 f; VersR 23, 64 Rz 17 ff). Das dabei verfolgte Ziel einer Erhöhung des Gewinns sei wegen der gleichgültigen Gesinnung sowohl im Hinblick auf die für den einzelnen Käufer mglw eintretenden Folgen und Schäden als auch im Hinblick auf die insoweit geltenden Rechtsvorschriften, insb zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt, verwerflich (BGHZ 225, 316 Rz 23 ff; NJW 20, 2806 Rz 11 f). Eine Untersagung der Betriebserlaubnis oder ein unmittelbares Bevorstehen einer solchen Untersagung ist nicht erforderlich (zB BGH ZIP 21, 1868 Rz 13; 2344 Rz 13; BB 21, 1618 Rz 11; NJW-RR 21, 1464 Rz 13; BeckRS 21, 31652 Rz 13; VersR 21, 923 Rz 12). Dies erscheint in der Gesamtargumentation schlüssig; nicht hinreichend wäre es hingegen, einzelne Faktoren, wie etwa die Entscheidung zur Gewinnmaximierung unter Inkaufnahme von Gesundheitsschäden vieler ohne Hinzutreten weiterer Umstände, den Verstoß gegen die EG-FGV oder gar bereits das bewusste Inverkehrbringen eines sachmangelbehafteten Fahrzeugs bzw das Verschweigen der Softwareprogrammierung (dazu zB Oechsler NJW 17, 2865, 2866; ähnl Legner VuR 18, 251, 252), als sittenwidrigkeitsbegründend anzusehen. Der so begründete Verstoß gegen die guten Sitten ist unabhängig davon, ob der Geschädigte das Fahrzeug unmittelbar vom Hersteller oder von einer anderen Person bzw als Gebrauchtwagen erworben hat (BGH VersR 21, 1450 Rz 9; 1513 Rz 9; BeckRS 21, 37454 Rz 10) und kommt auch in Betracht, wenn der Motor mit der Abschaltvorrichtung separat geliefert wurde – dann haftet der Motorhersteller (vgl BGH NJW 21, 1669 Rz 19 f; ZIP 21, 2344 Rz 12; BeckRS 21, 22189 Rz 10; ZIP 21, 1868 Rz 12; NJW-RR 21, 1464 Rz 12; BeckRS 21, 31652 Rz 12 f; 34798 Rz 12 f; 34795 Rz 13 f; 38266 Rz 17 f; ZIP 22, 1979 Rz 11). Auch ein späteres Software-Update, mit dem insb eine Betriebsuntersagung vermieden werden kann, führt nicht zum Entfallen der Sittenwidrigkeit, denn die sittenwidrige Schädigung ist bereits vor dem Zeitpunkt des Updates erfolgt (s etwa BGH VersR 21, 1116 Rz 12 f; 1450 Rz 9; 1513 Rz 9; 22, 391 Rz 15). Verweigert der Geschädigte das Software-Update, dürfte auch ein Mitverschulden ...

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