Rn 8

Der Hauptschuldner ist verpflichtet, den Bürgen über Tatsachen zu informieren, die dessen Rückgriffsanspruch gefährden (Staud/Stürner § 775 Rz 5; Erman/Zetzsche § 775 Rz 1). Soweit ein Auftrag oder auftragsähnliches Verhältnis (Rn 6) vorliegt, begründen folgende – in § 775 I abschließend aufgezählte Tatbestände (Staud/Stürner § 775 Rz 8) – einen Befreiungsanspruch (dabei kommt es ggf auf den Abschluss der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung der Klage des Bürgen gegen den Hauptschuldner an, vgl entspr § 773 Rn 14):

1. Wesentliche Vermögensverschlechterung (Nr 1).

 

Rn 9

Das Tatbestandsmerkmal der wesentlichen Vermögensverschlechterung ist wie bei §§ 321 I 1, 490 I zu verstehen. Dabei sind die Vermögensverhältnisse des Hauptschuldners (inkl Art und Höhe seiner Verbindlichkeiten) im Zeitpunkt der Bürgschaftsübernahme und der Geltendmachung des Befreiungsanspruchs zu vergleichen (Staud/Stürner § 775 Rz 8). Eine wesentliche Verschlechterung liegt vor, wenn der Hauptschuldner nicht mehr in der Lage ist, besonders wichtige und dringende Verbindlichkeiten zu erfüllen, wie zB Steuern, Zinsen und Arztrechnungen (RGZ 150, 77, 78). Der mehrfache Verzug mit Teilzahlungen (zB Unterhaltsverpflichtungen) kann Indiz für eine wesentliche Vermögensverschlechterung des Hauptschuldners sein (BGH JZ 68, 230, 231 [BGH 10.01.1968 - VIII ZR 164/65]; s.a. Rn 13 zum Indiz des ›bereinigten Verzugs‹).

 

Rn 10

An einer nach dem Normzweck von § 775 erforderlichen Gefährdung des Regressanspruchs (s Rn 1) kann es fehlen, wenn der Bürge hinreichend durch eine Rückbürgschaft gesichert ist (MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 6). Ebenso liegt trotz Auflösung und Vollbeendigung einer Personengesellschaft (als Hauptschuldnerin) keine Gefährdung vor, wenn und soweit die Vermögensverhältnisse von mindestens einem der persönlich haftenden Gesellschafter eine gleichwertige Sicherheit für den Rückgriff bieten (RG JW 27, 1689, 1690: für OHG).

 

Rn 11

Haben sich die Vermögensverhältnisse des Hauptschuldners wieder gebessert, entfällt der Befreiungsanspruch (MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 6).

2. Wesentliche Erschwerung der Rechtsverfolgung gegen den Hauptschuldner (Nr 2).

 

Rn 12

Eine wesentliche Erschwerung der Rechtsverfolgung infolge Änderung des Wohnsitzes, der gewerblichen Niederlassung oder des Aufenthaltsorts (Nr 2) liegt unter den gleichen Voraussetzungen vor wie bei § 773 I Nr 2 (s § 773 Rn 7 ff).

3. Verzug (Nr 3).

 

Rn 13

Die Regelung in Nr 3 setzt einen Verzug des Hauptschuldners voraus. Der Befreiungsanspruch des Bürgen entfällt, wenn der Hauptschuldner die Hauptforderung nachträglich tilgt (RG JW 35, 3529 Nr 2; BGH JZ 68, 230, 231 [BGH 10.01.1968 - VIII ZR 164/65]); ein durch Zahlung ›bereinigter‹ Verzug kann aber ein Indiz für eine wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Hauptschuldners iSd § 775 I Nr 1 sein (RG u BGH aaO). Stundet der Gläubiger dem Hauptschuldner nachträglich die Hauptforderung, entfällt der Befreiungsanspruch des Bürgen nicht (RG aaO), es sei denn dieser hat der Stundung zugestimmt (RGZ 59, 10, 12 f). Dem Bürgen steht der Befreiungsanspruch nach § 775 I Nr 3 unabhängig davon zu, ob er noch andere Sicherungsrechte hat (RGZ 59, 10, 13; MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 8); denn das Recht auf Befreiung ist wertvoller (vgl Rn 16) als das auf Sicherheitsleistung (RGZ aaO). Gerät der Hauptschuldner mit einer Teilleistung in Verzug, hat der Bürge nur einen Befreiungsanspruch in einer der Teilleistung entspr Höhe (BGH JZ 68, 230, 231 [BGH 10.01.1968 - VIII ZR 164/65]).

4. Vollstreckbares Urteil des Gläubigers gegen den Bürgen (Nr 4).

 

Rn 14

Unter Nr 4 fallen: (1.) rechtskräftige Urteile (Wortlaut); (2.) vorläufig vollstreckbare Urteile (arg § 704 I ZPO; LG Meiningen ZIP 98, 991, 993); (3.) Vollstreckungsbescheide nach §§ 699, 700 I ZPO (MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 9; Erman/Zetzsche § 775 Rz 4); (4.) vollstreckbare Schiedssprüche nach §§ 1054 I, 1060 ZPO (MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 9; Staud/Stürner § 775 Rz 11).

 

Rn 15

Unanwendbar ist Nr 4 hingegen auf Titel, die der Gläubiger nicht (allein) ›erwirkt‹ hat, sondern die er nur durch Mitwirkung des Bürgen erlangen konnte: (1.) Prozessvergleich, § 794 I 1 ZPO (Erman/Zetzsche § 775 Rz 4; MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 9; Staud/Stürner § 775 Rz 11), (2.) die vollstreckbare Urkunde nach § 794 I 5 ZPO (Erman, MüKoBGB u Staud aaO); (3.) der Schiedsspruch mit vereinbarten Wortlaut, § 1053 I 2 ZPO (MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 9); (4.) Anerkenntnisurteil nach § 307 ZPO (Geißler JuS 88, 452, 455; MüKoBGB/Habersack § 775 Rz 9). Zahlt der Hauptschuldner vor Beginn der Vollstreckung aus dem Titel, entfällt der Befreiungsanspruch (RG JW 35, 3529 Nr 2).

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