Rn 2

Das o Rn 1 Gesagte ergibt Anhaltspunkte für den Anwendungsbereich von § 324: Dieser deckt sich im Wesentlichen mit einem Teilbereich der inzwischen überholten positiven Vertragsverletzung, nämlich demjenigen außerhalb der Schlechtleistung (die jetzt unter § 323 fällt, § 323 Rn 14). Auch bei § 324 ist aber kein Vertretenmüssen nötig. Die Vorschrift tritt jedoch hinter § 323 zurück, wenn der Inhalt der Schutzpflicht zugleich eine Leistung bedeutet, etwa beim Bewachungsvertrag (Grigoleit FS Canaris [07], I, 275, 296 f). Zum Kündigungsrecht bei Dauerschuldverhältnissen vgl § 314 Rn 19.

 

Rn 3

Ergiebiger ist das weitere Erfordernis der Unzumutbarkeit eines Festhaltens am Vertrag. Dieses folgt aus einer Störung der Vertrauensgrundlage. Allerdings ist eine solche Grundlage bei einfachen Austauschverträgen weniger wichtig als bei Dauerschuldverhältnissen (vgl § 314). Doch können auch Austauschverträge länger laufen, etwa wenn die Leistung sehr umfangreich (zB ein Großbau) oder über längere Zeit in Teilen zu erbringen ist. Dann wiegt jede Beeinträchtigung der Vertrauensgrundlage schwerer.

 

Rn 4

Unzumutbarkeit setzt idR keine Abmahnung voraus (MüKo/Ernst Rz 10). § 314 II passt nicht entspr. Eher kann man Wiederholungsgefahr für nötig halten, doch liefert auch diese nur ein Indiz für die Unzumutbarkeit. Denn bei schweren Pflichtverletzungen kann das nötige Vertrauen auch bei Einmaligkeit zerstört sein. Jedenfalls aber mag eine Wiederholung Unzumutbarkeit auch dann begründen, wenn der erste Verstoß dafür nicht genügt hätte. Umgekehrt ist zu berücksichtigen, inwieweit das verletzte Integritätsinteresse des Gläubigers schon durch Schadensersatzansprüche ausgeglichen werden kann.

 

Rn 5

Mögliche Anwendungsfälle für § 324 sind etwa: Beleidigungen; Schädigungen von Körper oder Eigentum des Gläubigers; Bestechungen oder Bestechungsversuche; Betrug (zu diesen Täuschungsfällen Weiss NJW 14, 1212, 1215); beim Anwaltsvertrag die Erregung des Verdachts strafbarer Handlungen (BGH NJW 95, 1954 f); Verletzung von Nebenpflichten im Zuge von Nachbesserungsarbeiten (Zweibr MDR 21, 869 [OLG Zweibrücken 22.04.2021 - 2 U 46/20] Rz 33). Im Anwendungsbereich der mittlerweile durch die WarenkaufRL abgelösten VerbrGKRL schied eine richtlinienkonforme Anwendung des § 324 mit dem Ziel der Gewährung eines Rücktrittsrechts trotz erfolgreicher Nacherfüllung auch dann aus, wenn diese mit erheblichen Unannehmlichkeiten für den Verbraucher verbunden war. Hiergegen steht der klare Wille des Umsetzungsgesetzgebers (Herresthal WM 07, 1354, 1357 ff; Stürner, Europäisches Vertragsrecht 21, § 8 Rz 81 ff; aA Unberath ZEuP 05, 3, 26; Grüneberg/Grüneberg Rz 3). Seit dem 1.1.22 ist das Problem wegen § 475 V obsolet, dessen Verletzung eine Schadensersatzpflicht nach § 280 I auslösen kann (Lorenz NJW 21, 2065, 2069).

 

Rn 6

Wenn der Vertrag bei der Entstehung des Rücktrittsrechts schon teilweise abgewickelt ist, kommt ein nur auf den übrigen Teil sich beziehender kündigungsähnlicher Teilrücktritt in Betracht (MüKo/Ernst Rz 15), weil nur insoweit die Vertrauensgrundlage noch nötig ist. Doch kann sich uU das Misstrauen auch auf die schon erbrachten Leistungen beziehen; dann umfasst der Rücktritt auch diese.

 

Rn 7

Eine Mitverantwortlichkeit oder ein Annahmeverzug des Gläubigers können analog § 323 VI berücksichtigt werden. Ist die Leistung vollständig erbracht, scheidet ein Rücktritt wegen Verletzung einer Schutzpflicht ganz aus (Grigoleit FS Canaris [07], I, 275, 294).

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