Gesetzestext

 

(1) Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen.

(2) Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der Eingriffsnormen des Rechts des angerufenen Gerichts.

(3) Den Eingriffsnormen des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, kann Wirkung verliehen werden, soweit diese Eingriffsnormen die Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig werden lassen. Bei der Entscheidung, ob diesen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, werden Art und Zweck dieser Normen sowie die Folgen berücksichtigt, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben würden.

A. Ursprung und Inhalt.

 

Rn 1

Wie schon Savigny ›Gesetze von streng positiver, zwingender Natur‹ (System VIII 33) von der Gleichbehandlung der Rechtsordnungen ausnahm, so regelt Art 9 die Beachtung von grundlegenden zwingenden Vorschriften, sog ›Eingriffsnormen‹. Für diese gibt Art 9 nun eine umfassende Bestimmung, die Art 7 EVÜ, Art 34 EGBGB ablöst und neben dem abweichenden, aber parallelen Art 16 ROM II für außervertragliche Schuldverhältnisse steht. Die drei Absätze des Art 9 enthalten eine Definition in I, den Vorbehalt für die Eingriffsnormen der lex fori in II und eine Regelung drittstaatlicher Eingriffsnormen in III. Neu ist auch, dass die Vorschrift ausdrücklich von ›Eingriffsnormen‹ spricht.

B. Eingriffsnorm und Anwendungswille, Art 9 I.

 

Rn 2

Die Begriffsbestimmung in I ist an das die Grundfreiheiten betreffende EuGH-Urt in Arblade Rs C-369/96, Slg 1999, I-8453, angelehnt, das die Definition von Francescakis aufgegriffen hat (vgl W.-H. Roth AcP 220 (2020) 458, 512; Calliess/Renner/Renner Art 9 Rz 9). Infolge der Einfügung des Wortes ›insb‹ ist die Wahrung der ›politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation‹ aber keine abschließende Aufzählung (Th. Pfeiffer EuZW 08, 622, 628). Eine Erledigung der vielen Streitigkeiten zum Begriff Eingriffsnorm wird man damit gleichwohl nicht erwarten können (zutr, aber zu eng Mankowski IHR 08, 147). Die Definition bringt wohl einen europäischen Begriff der Eingriffsnorm mit sich, es wird sich um hinreichend gewichtige Regelungen handeln müssen (Th. Pfeiffer EuZW 08, 622, 628; Bonomi in: Cashin Ritaine/Bonomi, Le nouveau règlement, 08, 225: ›nouvelle notion communautaire‹; Martiny ZEuP 10, 747, 776), doch kommt es nach dem Wortlaut auf die Sicht des Staates an, von welchem die fragliche Norm herrührt. Daher bestimmt der Staat, nicht Art 9, ob die Norm Eingriffsnorm sein soll (klar Plender/Wilderspin 12–011 f). Eine gewisse Rahmenkontrolle durch den EuGH scheint jedoch denkbar (erwartungsvoll Bonomi in: Cashin Ritaine/Bonomi 10 f; auch Hauser Eingriffsnormen, 2012, 14 ff; für aktivere Rolle Kühne FS Wegen 451, 460, 462; schon zum Entwurf Thorn in: Ferrari/Leible, Ein neues internationales Vertragsrecht für Europa, 07, 129, 136 ff). Die Grundfreiheitenkontrolle (s.u. Rn 47) ist etwas anderes (richtig Thorn ebd). Der EuGH fordert eine ausführliche Analyse von Wortlaut, allgemeiner Systematik, Telos und Entstehungszusammenhang (Rs C-149/18 – Da Silva Martins, EuZW 19, 134 = ECLI:EU:C:2019:84 Rz 30 f; schon C-184/12 – Unamar Rz 50 EuZW 13, 956 = ECLI:EU:C:2013:663). Faktisch haben die nationalen Gerichte bisher das letzte Wort (vgl belg Cass in Sachen Unamar, dazu Remien FS Kronke [20], 447, 448 Rz 18). Normen, die rein private Interessen schützen, werden durch die Definition wohl ausgeschlossen (Cheshire/North/Fawcett Private International Law, 08, 739; MüKo/Sonnenberger 4. Aufl Einl IPR Rz 44), nicht aber jeder Individualschutz (nach der Unamar-Entscheidung des EuGH W.-H. Roth FS E. Lorenz 421, 435; Schilling ZEuP 14, 843, 848, 859; differenzierend Callies/Renner Art 9 Rz 12; vorsichtig Lüttringhaus IPrax 14, 146, 148), oder automatisch alles Sonderprivatrecht (Freitag IPRax 09, 112; Bonomi 227 ff; unklar Garcimartín Alférez EuLF 08, I-61, I-77 Nr 75; vgl auch Thorn ebda 139 zum Entwurf). Dies stünde sonst kaum im Einklang mit dem Ingmar-Fall (dazu Rn 18) und der Sicht in manchen Mitgliedstaaten (vgl Bonomi 228 f).

 

Rn 3

Problematisch ist das Verhältnis zur besonderen Verbraucherkollisionsnorm des Art 6, denn auch Verbraucherschutzvorschriften können uU unter Art 9 fallen (zum EGBGB schon BTDrs 10/503/Giuliano 60; ferner etwa W.-H. Roth in Internationales Verbraucherschutzrecht 35, 43 ff; einschränkend Junker IPRax 00, 65, 71; weit infolge RL-Auslegung Hoffmann/Primaczenko IPRax 07, 173; aA aber v Bar/Mankowski Rz 4/94). In der VO ist eine Klarstellung leider unterblieben – obwohl deutsche und französische Höchstgerichte unterschiedliche Lösungen entwickelt haben (ebda, auch Pelegrini Rev Lamy dr des aff 08, 71, 75; Plender/Wilderspin 12–015; vgl Kuipers/Migliorini Euro...

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