Rn 40

Unter Bindungstoleranz versteht man die Fähigkeit des alleinsorgeberechtigten Elternteils zuzulassen, dass das Kind einen regelmäßigen Kontakt mit dem anderen Elternteil pflegt und auch zu diesem eine liebe- und vertrauensvolle Beziehung unterhält. Dies bedeutet in erster Linie, dass ein persönlicher Umgang nicht nur ermöglicht, sondern auch positiv gefördert wird (vgl Zweibr FamRZ 05, 745). Im Sorgerechtsverfahren ist deshalb zu prüfen, welcher Elternteil hierfür eher die Gewähr bietet, wenn ihm die elterliche Sorge allein übertragen werden würde.

 

Rn 41

Die Bindungstoleranz ist wesentliche Voraussetzung für die Übertragung des alleinigen Sorgerechts. Daher kann entscheidend gegen die Übertragung der elterlichen Sorge auf einen Elternteil sprechen, dass dieser nicht bereit oder fähig ist, die Bindungen des Kindes zu dem anderen Elternteil zu respektieren und zu fördern, insb durch Mitwirkung an der Realisierung des Umgangsrechts (Frankf ZfJ 98, 343; ebenso Brandbg FamRZ 01, 1021; vgl auch Hamm FamRZ 00, 1039; Dresd FamRZ 03, 397; 17, 1834, 1838 mAnm Rake; München FamRZ 03, 57; Celle FamRZ 04, 1667; 18, 1516; Ddorf FuR 05, 563; KG FamRZ 08, 2054; Köln FamRZ 09, 1762; 10, 1747; 14, 575; 17, 1839; 1515; Jena FamRZ 11, 1070, 1071: Erhaltung des anderen Elternteils im Alltag; Kobl FamRZ 15, 1911; Braunschw FamRZ 22, 1706; vgl aber auch Hamm FamRZ 07, 1677; 09, 1763: kein zwangsläufiger Sorgerechtsentzug; BGH FamRZ 08, 592, 594: Überwiegen anderer Kriterien; Kobl FamRZ 08, 1973: Ungeeignetheit des anderen Elternteils; BverfG FamRZ 09, 189; 09, 1389: Kindeswohl entscheidet; ebenso: Köln FamRZ 11, 120; KG FamRZ 11, 122, 124; Saarbr FamRZ 12, 884; Frankf FamRZ 14, 396; 17, 1841; VerfGH Berlin FamRZ 14, 857). Daher ist das Verhalten des sorgeberechtigten Elternteils anlässlich des Umgangs des Kindes mit dem anderen Elternteil ein maßgebliches Kriterium (zur Auswanderung vgl § 1684 Rn 21; Stuttg FamRZ 21, 686: Übertragung Aufenthaltsbestimmungsrechts auf Inland beschränkt möglich). Doch darf die Bindungstoleranz des sorgeberechtigten Elternteils nicht losgelöst vom Verhalten und der Erziehungseignung des anderen Elternteils beurteilt werden. Je weniger dieser selbst bindungstolerant ist (und etwa das Kind für seine Zwecke in der Sorgerechtsauseinandersetzung instrumentalisiert) oder je erziehungsungeeigneter er ist, desto weniger kann vom anderen Elternteil Bindungstoleranz erwartet werden (Frankf FamRZ 17, 1841).

 

Rn 42

Nach der hier vertretenen Auffassung ist auch die Ablehnung der gemeinsamen elterlichen Sorge durch einen Elternteil unter dem Aspekt der Bindungstoleranz zu prüfen (s.o. Rn 23). Die Ablehnung ist dann Ausdruck mangelnder Bindungstoleranz, wenn sie willkürlich oder missbräuchlich erfolgt. Bei der Prüfung dieser Frage ist darauf abzustellen, ob der andere Elternteil begründeten Anlass zu einer solchen Ablehnungshaltung gibt. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn die Eltern über wichtige das Kind betr Fragen uneins sind oder waren. Vielmehr ist es ausreichend, aber auch erforderlich, dass die Beziehung der Eltern auf der Paarebene gestört ist und sowohl Grund wie Ausmaß der Störung als auch die darauf beruhende Ablehnung der gemeinsamen Sorge von einem vernünftig denkenden Menschen nachvollzogen werden können (vgl Saarbr FamRZ 11, 120: Gewalttätigkeiten; FAKomm-FamR/Ziegler § 1671 Rz 63 f mit weiteren Bsp). IÜ wird die Ablehnung der gemeinsamen elterlichen Sorge umso eher nachvollziehbar sein, je weniger erziehungsgeeignet der andere Elternteil ist.

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