Rn 15

Auch ohne Zustimmung des anderen Elternteils kann die elterliche Sorge auf Antrag gem § 1671 I Nr 2 ganz oder teilweise auf einen Elternteil allein übertragen werden. Voraussetzung ist, dass dies dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Damit ist das Kindeswohl das zentrale Entscheidungskriterium. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, iÜ aber auch aus der allg Regel des § 1697a (J/H/A/Lack § 1671 Rz 41). Entspricht eine geteilte Betreuung des Kindes durch beide Eltern (Wechselmodell) dem Kindeswohl am besten, ist die gemeinsame Sorge, insb das gemeinsame Aufenthaltsbestimmungsrecht, beizubehalten, was aber nicht im Sorgerechtsverfahren angeordnet, sondern nur iR einer gerichtlichen Umgangsregelung sichergestellt werden kann (Frankf FamRZ 19, 976; 21, 948: auch Aufhebung; Dresd FamRZ 21, 691; ähnlich Bambg FamRZ 19, 979; Stuttg FamRZ 20, 107; offengelassen BGH FamRZ 17, 532; Karlsr FamRZ 21, 688; vgl BverfG FamRZ 15, 1585). Eine sorgerechtliche Entscheidung zur Durchsetzung einer geteilten Betreuung kann nur dadurch ergehen, dass dem Elternteil, der ein vom anderen Elternteil abgelehntes Wechselmodell befürwortet, das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen wird und davon ausgegangen werden kann, dass dieser sein Aufenthaltsbestimmungsrecht auch entsprechend ausüben wird und der andere Elternteil in diesem Fall ebenfalls zur Übernahme einer geteilten Betreuung bereit ist (Frankf FamRZ 19, 976; 21, 1120). Eine Sorgerechtsvollmacht (Bevollmächtigung eines Elternteils zur alleinigen Wahrnehmung elterlicher Vertretungsbefugnisse) kann eine Übertragung des alleinigen Sorgerechts entbehrlich machen, wenn sie dem bevollmächtigten Elternteil eine ausreichend verlässliche Handhabe zur alleinigen Wahrnehmung der Kindesbelange gibt (BGH FamRZ 20, 1171 mAnm Amend-Traud; Frankf FamRZ 20, 1187; 21, 756; Hambg FamRZ 21, 204; Brandbg FamRZ 22, 1860; vgl Karlsr FamRZ 22, 115; Brandbg FamRZ 22, 1202; Dresd FamRZ 22, 1201: nicht bei massiven Konflikten; Köln FamRZ 22, 1930: nicht bei Missbrauch des Geschwisterkinds). Hierfür ist allerdings eine ausreichende Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft der Eltern erforderlich, soweit eine solche auch unter Berücksichtigung des durch die Vollmacht erweiterten Handlungsspielraums des bevollmächtigten Elternteils unerlässlich ist (BGH FamRZ 20, 1171; Frankf FamRZ 21, 756).

 

Rn 16

Das Kindeswohl hat Vorrang vor den Interessen der Eltern (BverfG FamRZ 89, 143; 96, 1267; Hamm 96, 361). Bei einer Interessenkollision zwischen Eltern und Kind ist das Kindeswohl der bestimmende Maßstab (BverfG FamRZ 99, 85, 86). Denn das verfassungsrechtlich verankerte Elternrecht findet seine Rechtfertigung letztlich allein im Bedürfnis des Kindes nach Schutz und Hilfe (BverfG FamRZ 86, 769, 772). Eltern haben keinen Machtanspruch ggü ihren Kindern, die als Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Recht auf Persönlichkeitsentfaltung selbst Träger der Grundrechte der Art 1 I und 2 II GG sind (BverfG FamRZ 86, 769, 772).

 

Rn 17

Sicherlich entspräche es dem Wohl des Kindes regelmäßig am besten, wenn die Eltern wieder glücklich zusammenleben würden. Dies kann aber nicht erzwungen werden. Die entscheidende Frage lautet daher: Ist zu erwarten, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und Übertragung auf den Antragsteller unter den gegebenen Umständen dem Wohl des Kindes am besten entspricht? Dabei macht der Gesetzeswortlaut deutlich, dass die Prüfung des Kindeswohls in zweierlei Blickrichtung zu erfolgen hat: Entspricht die Aufhebung der gemeinsamen Sorge dem Kindeswohl am besten? Entspricht die Übertragung (gerade) auf den Antragsteller dem Kindeswohl am besten?

a) Erster Prüfungsschritt: Entspricht die Aufhebung der gemeinsamen Sorge dem Wohl des Kindes am besten?

aa)

 

Rn 18

Es besteht kein Regel-Ausnahme-Verhältnis in dem Sinn, dass eine Priorität zugunsten der gemeinsamen elterlichen Sorge bestehen und die Alleinsorge eines Elternteils nur in Ausnahmefällen als ultima ratio in Betracht kommen sollte (BGH FamRZ 99, 1646, 1647; 05, 1167; 08, 592; BverfG FamRZ 04, 354; Hamm FamRZ 99, 39; München FamRZ 08, 1774; Celle FamRZ 16, 385). Es ist vielmehr in erster Linie Sache der Eltern zu entscheiden, ob sie die gemeinsame Sorge nach ihrer Scheidung beibehalten wollen oder nicht. Es besteht weder ein Vorrang der gemeinsamen Sorge vor der Alleinsorge noch eine gesetzliche Vermutung dafür, dass die gemeinsame elterliche Sorge im Zweifel die für das Kind beste Form der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung ist. Einer solchen Regelung stünde bereits entgegen, dass sich elterliche Gemeinsamkeit in der Realität nicht verordnen lässt (BGH FamRZ 99, 1646, 1647; 08, 592, 593; KG FamRZ 11, 122, 123; Jena FamRZ 11, 1070; BTDrs 13/4899 63; J/H/A/Lack § 1671 Rz 34; Grüneberg/Götz § 1671 Rz 13; aA Haase/Kloster-Harz FamRZ 00, 1003, 1005; zum Streitstand vgl FAKomm-FamR/Ziegler § 1671 Rz 21 ff).

 

Rn 19

Mit der Ablehnung eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses sollen die Vorteile der gemeinsamen elterlichen Sorge nicht geleugnet werden. Grds ist sie die erstrebenswerteste Sorgeform (vgl auch Staud/Coester § 1671 Rz...

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