Rn 36

Für die Beurteilung des Rechtsgeschäfts sind grds die bei seiner Vornahme und nicht die bei seiner Erfüllung herrschenden tatsächlichen Umstände sowie Wertvorstellungen maßgebend (BGHZ 100, 359; 107, 96 f; NJW 02, 431; BAG NJW 11, 630 Tz 30; Medicus NJW 95, 2578). Für die Feststellung eines besonders groben Missverhältnisses sind die objektiven Werte der auszutauschenden Leistung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgebend und nachträgliche Veränderungen grds bedeutungslos (BGH NJW 12, 1570 Tz 13). Gleichwohl können im Zeitablauf nachfolgende Umstände eine indizielle Bedeutung gewinnen (BGH BeckRS 22, 36859 Rz 26). Davon zu unterscheiden sind jedoch Änderungen des Rechtsgeschäfts selbst. Vereinbarungen, mit denen die Parteien die ursprünglich vereinbarten Hauptleistungen ändern, müssen beachtet werden (BGH NJW 12, 1570 Tz 14; zu den Folgen Rn 38, Rn 40). Der Zeitpunkt gilt zunächst für veränderte tatsächliche Verhältnisse. Eine gesellschaftsvertragliche Abfindungsklausel wird nicht dadurch sittenwidrig, dass nachträglich ein grobes Missverhältnis zwischen Anteilswert und Abfindungsbetrag entsteht (BGHZ 123, 284; s.a. 126, 239 ff). Ein zunächst wirksamer Sicherungsvertrag wird nicht durch weitere bedenkliche Sicherungen (BGHZ 7, 115; s.a. 100, 359) und ein wirksames Darlehen nicht durch eine Aufstockung nichtig (BGHZ 107, 97). Wird ein Rechtsgeschäft nachträglich geändert, können aber Umstände Bedeutung erlangen, die erst zu diesem Zeitpunkt vorliegen (BGH NJW 07, 2841 [BGH 29.06.2007 - V ZR 1/06] Tz13).

 

Rn 37

War ein Rechtsgeschäft bei seiner Vornahme unbedenklich, ist es aber aufgrund eines zwischenzeitlichen Wandels der Wertvorstellungen als sittenwidrig zu beurteilen, sprechen Rechtssicherheit und Vertrauensschutz dafür, das Geschäft nicht nachträglich infrage zu stellen (AnwK/Looschelders Rz 125). Der Eintritt dieses Wertewandels wird von der höchstrichterlichen Rspr lediglich festgestellt und nicht selbst geschaffen (BGH NJW 83, 2693 [BGH 30.06.1983 - III ZR 114/82], sittenwidrige Konsumentenkreditverträge; BVerfG NJW 84, 2345 [BVerfG 09.05.1984 - 1 BvR 1279/83]). Der Zeitpunkt des Wandels kann deswegen vor den ersten höchstrichterlichen Entscheidungen liegen. Auch bei einem gültigen Rechtsgeschäft drohen keine unerträglichen Folgen. Dem Erfüllungsverlangen aus einem noch nicht erfüllten Vertrag darf der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegengehalten werden (BGHZ 131, 213). Zudem ist ein Wegfall der Geschäftsgrundlage oder eine ergänzende Vertragsauslegung denkbar (BGHZ 126, 241).

 

Rn 38

War ein Rechtsgeschäft nach den bei seiner Vornahme herrschenden Maßstäben sittenwidrig, während es nach den aktuellen Vorstellungen wirksam ist, bleibt es bei der Nichtigkeit. Wollen die Parteien am Geschäft festhalten, müssen sie es bestätigen, § 141, oder neu vornehmen (BGH NJW 12, 1571 [BGH 10.02.2012 - V ZR 51/11] Tz 15; BaRoth/Wendtland Rz 27; Bork AT Rz 1157; Erman/Schmidt-Räntsch § 138 Rz 36).

 

Rn 39

Eine Ausnahme ist für letztwillige Verfügungen anzuerkennen. Maßgebend sind die Umstände im Zeitpunkt des Erbfalls (differenzierend Staud/Sack/Fischinger § 138 Rz 139 ff; aA BGHZ 20, 73 ff; noch anders EGMR NJW 05, 875 Tz 62, Zeitpunkt der Entscheidung). Entspr dem erbrechtlichen Grundsatz aus § 2084 ist dadurch der Erblasserwille nach Möglichkeit zu verwirklichen (Neuner § 46 Rz 28). Bei arbeitsvertraglichen Entgeltvereinbarungen ist auf den streitigen Zeitraum abzustellen (BAG NZA 06, 1354 [BAG 26.04.2006 - 5 AZR 549/05] Tz 17).

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