Rn 19

Art 103 I GG vermittelt allen an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten einen Anspruch darauf, sich zu dem in Rede stehenden Sachverhalt sowie zur Rechtslage (BVerfG NJW 09, 1584 f [BVerfG 26.11.2008 - 1 BvR 670/08] mwN) zu äußern. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfG 1.8.17 – 2 BvR 3068/14 Tz 47 mwN). Die Verletzung des Grundrechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs, die eine Wiederholungsgefahr oder Symptomatik des Rechtsfehlers nicht erfordert, kann vorliegen, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht seiner Verpflichtung, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht nachgekommen ist. Dazu müssen besondere Umstände deutlich gemacht werden, aus denen sich ergibt, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BVerfG NJW-RR 02, 68, 69 [BVerfG 25.04.2001 - 1 BvR 2139/99]). Diese Voraussetzungen können auch dann erfüllt sein, wenn die Begründung der angefochtenen Entscheidung nur den Schluss zulässt, dass sie auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, nicht aber den Sinn des Parteivortrages erfassenden Wahrnehmung beruht (BGH v 11.5.16 – VII ZR 64/15 Tz 24 – juris). Dies ist insb dann der Fall, wenn das Gericht auf einen wesentlichen Kern des Vortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht eingeht (BVerfG NJW 98, 1583 f; BGH NJW-RR 05, 1306; NJW 09, 2139 [BGH 06.04.2009 - II ZR 117/08]), sofern der wesentliche Kern des Tatsachenvortrags nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts nicht unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (BGH 21.6.22 – VI ZR 1067/20 – NJW 22, 2683 Rz 10). Der wesentliche, der Rechtsverfolgung und der Rechtsverteidigung dienende Vortrag eines Prozessbeteiligten muss in den Entscheidungsgründen des Gerichts verarbeitet werden (BVerfG NJW 04, 1519 [BVerfG 05.02.2004 - 2 BvR 1621/03]; BGH NJW-RR 09, 1361 Tz 5). Verkennt das Berufungsgericht den Kerngehalt des Vortrags einer Partei, verstößt es gegen Art 103 I GG (BGH NJW-RR 09, 1361 [BGH 14.07.2009 - VIII ZR 295/08]). Dasselbe gilt, wenn das Gericht seine prozessuale Fürsorgepflicht gem § 139 Abs 4 verletzt, den Antrag der Partei auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zurückweist und infolgedessen entscheidungserheblichen Vortrag nicht zur Kenntnis nimmt (BGH WM 06, 2328). Es stellt eine Versagung des rechtlichen Gehörs dar, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Verfahrensbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen brauchte, weil dies im Ergebnis der Verhinderung des Vortrags gleichkommt (BGH GRUR 10, 1034 [BGH 24.06.2010 - I ZB 40/09]; NJW 20, 2730 [BGH 12.05.2020 - VIII ZR 171/19] Tz 13 mzwN; 7.4.22 – I ZR 73/21 Rz 8 – juris). Auch bei einer offenkundigen Überspannung der Substantiierungsanforderungen, infolge derer Sachvortrag nicht zur Kenntnis genommen und die angebotenen Beweise nicht erhoben werden, ist ein Verstoß gegen Art 103 Abs 1 GG gegeben (BGH 10.1.23 – VII ZR 9/21 Rz 12 – juris mwN). Ein Sachverhalt zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Es obliegt dann dem Tatrichter, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei ggf die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten (BGH 16.7.13 – VIII ZR 384/12 Tz 12 – juris; 28.2.12 – VIII ZR 124/11 Tz 5 f – juris; NJW 12, 382 [BGH 25.10.2011 - VIII ZR 125/11] Tz 13f). Ein zulassungsrelevanter Verstoß gegen Art 103 Abs 1 GG liegt auch dann vor, wenn das Gericht eine Rechtskonstruktion ohne hinreichende Tatsachengrundlage im Vortrag der Parteien bejaht und damit zugleich den Beibringungsgrundsatz verletzt (BGH v 20.10.08 – II ZR 207/07 Tz 21 – juris). Geht das Berufungsgericht einem erheblichen Beweisangebot nicht nach, liegt darin eine vorweggenommene Beweiswürdigung, die im Prozessrecht keine Stütze findet und Art 103 I GG verletzt (BVerfG NJW-RR 01, 1006, 1007; BGH NJW 09, 2604 [BGH 12.05.2009 - VI ZR 275/08] Tz 2 mwN; vgl auch BGH NJW-RR 11, 89 [BGH 15.09.2010 - XII ZR 188/08] Tz 15 ff; BGH NJW-RR 10, 1217 [BGH 11.05.2010 - VIII ZR 212/07]). Dabei ist zu beachten, dass die Ablehnung eines Beweisantrages für eine erhebliche Tatsache nur zulässig ist, wenn diese so ungenau bezeichnet ist, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann oder wenn sie ins Blaue hinein ausgestellt worden ist (BGH 8.11.12 – VII ZR 199/11 Tz 8 – juris). Auch bei der Zurückweisung einer beantragten Zeugenvernehmun...

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