Gesetzestext

 

(1) 1Das Gericht hat das Sach- und Streitverhältnis, soweit erforderlich, mit den Parteien nach der tatsächlichen und rechtlichen Seite zu erörtern und Fragen zu stellen. 2Es hat dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen. 3Das Gericht kann durch Maßnahmen der Prozessleitung das Verfahren strukturieren und den Streitstoff abschichten.

(2) 1Auf einen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, darf das Gericht, soweit nicht nur eine Nebenforderung betroffen ist, seine Entscheidung nur stützen, wenn es darauf hingewiesen und Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. 2Dasselbe gilt für einen Gesichtspunkt, den das Gericht anders beurteilt als beide Parteien.

(3) Das Gericht hat auf die Bedenken aufmerksam zu machen, die hinsichtlich der von Amts wegen zu berücksichtigenden Punkte bestehen.

(4) 1Hinweise nach dieser Vorschrift sind so früh wie möglich zu erteilen und aktenkundig zu machen. 2Ihre Erteilung kann nur durch den Inhalt der Akten bewiesen werden. 3Gegen den Inhalt der Akten ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

(5) Ist einer Partei eine sofortige Erklärung zu einem gerichtlichen Hinweis nicht möglich, so soll auf ihren Antrag das Gericht eine Frist bestimmen, in der sie die Erklärung in einem Schriftsatz nachbringen kann.

A. Allgemeines.

I. Normzweck.

 

Rn 1

§ 139 verpflichtet das Gericht, durch Fragen und Hinweise an die Parteien auf eine sachgerechte Prozessführung durch diese hinzuwirken. Die materielle Prozessleitung durch das Gericht (zur Abgrenzung von der formellen Prozessleitung s § 136 Rn 1 f) soll ein faires und effizientes Verfahren sicherstellen, das möglichst optimale Rahmenbedingungen zur gerechten und angemessenen Lösung des Konflikts bietet (grdl Rensen; zuletzt Stürner ZZP 123, 147 mwN; Nober/Ghassemi-Tabar NJW 17, 3265). Der durch das Gesetz zur Aktivität verpflichtete Richter darf sich daher nicht damit begnügen, passiv das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen, er muss sich vielmehr mit den Parteien in den Grenzen von § 139 über den Streitstoff in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auseinandersetzen, nicht zuletzt um die Akzeptanz der Entscheidung zu fördern (BTDrs 14/3722, 60). Das zwingt den Richter nicht automatisch zu einem Rechtsgespräch mit den Parteien (s.u. Rn 5). Die Einforderung eines Rechtsgesprächs ist Anwaltssache (Hirtz AnwBl 12, 21 [BFH 10.08.2011 - IX B 175/10]). Die umfassende Wahrnehmung der richterlichen Pflichten im Rahmen von § 139 rechtfertigt keine Ablehnung wegen Befangenheit (BVerwG AnwBl 18, 46 [BVerwG 10.10.2017 - BVerwG 9 A 16.16]; München MDR 19, 889). Zu dem mWv 1.1.20 neu eingefügten Abs 1 S 3 s.u. Rn 8 aE.

II. Systematischer Zusammenhang.

1. Materielle Verfahrensleitung und Dispositionsmaxime.

 

Rn 2

Im Ausgangspunkt obliegt es aufgrund der Dispositionsmaxime und des Beibringungsgrundsatzes den Parteien, den Prozess zu führen (grundlegend Tolani, Parteiherrschaft und Richtermacht 19). Sie müssen die Anträge formulieren, die relevanten Tatsachen vortragen, einschlägige Beweismittel benennen und ggf Einreden erheben. Das Gericht soll durch die materielle Prozessleitung die Parteien bei der Erfüllung dieser Prozessführungslast lediglich unterstützen und ihnen die effektive Nutzung ihrer Rechte ermöglichen. Die materielle Prozessleitung durch das Gericht steht daher nicht in einem Gegensatz zur Dispositionsmaxime und zum Beibringungsgrundsatz, sondern in einem dienenden Verhältnis (St/J/Kern Rz 2). Sie ist keine Durchbrechung des Beibringungsgrundsatzes (Einl Rn 28). § 139 führt auch nicht zu einer ›Kooperationsmaxime‹ (Prütting NJW 80, 361, 362, 364). Das Verhältnis zwischen Richtermacht und Parteifreiheit wurde auch durch die Neufassung der Norm iRd ZPO-RG nicht grds neu definiert (Prütting FS Musielak, 397, 410; Katzenmeier JZ 02, 533, 537). Gerade weil § 139 die Fairness des Verfahrens fördern soll, darf sich der Richter in Ausübung seiner Pflichten aus § 139 keinesfalls auf die Seite der ›schwächeren‹ Partei stellen. Insbesondere erlaubt es die Vorschrift auch in ihrer veränderten Fassung dem Gericht nicht, auf neue Anspruchsmöglichkeiten des Klägers oder noch nicht geltend gemachte Gestaltungsrechte und Einreden des Beklagten hinzuweisen. Das Gericht darf nur Hilfestellung geben, aber nicht selbst im Interesse einer Partei die Initiative ergreifen. Es bleibt auch insoweit strikt zur Neutralität verpflichtet (BGH NJW 04, 164 [BGH 02.10.2003 - V ZB 22/03]), will es sich nicht der Gefahr einer Ablehnung wegen Befangenheit nach § 42 aussetzen. Die Grenze zwischen gebotenem Hinweis und unzulässiger Parteinahme ist nur im Einzelfall zu ziehen (BVerfG MDR 20, 1524 [BVerfG 17.09.2020 - 2 BvR 1605/16]).

2. Materielle Verfahrensleitung und das Recht auf rechtliches Gehör (Art 103 I GG).

 

Rn 3

Aus § 139 folgt für das Gericht eine Pflicht zur Kommunikation mit den Parteien, um Unklarheiten auszuräumen und auf sachgerechte Anträge hinzuwirken. Art 103 I GG gewährt dagegen dem Einzelnen...

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