I. Zeitpunkt.

 

Rn 5

Die Entscheidung, ob in das Verfahren gem § 495a eingetreten wird, kann jederzeit erfolgen. Sie liegt bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen im freien Ermessen des Gerichts (Ausnahme s.o. Rn 4). Das Gericht hat sie den Parteien mitzuteilen, auch wenn eine entsprechende ausdrückliche Anordnung – insb nicht durch förmlichen Beschluss – im Gesetz nicht vorgesehen ist. Anordnung durch bloße Verfügung ist also ausreichend. Jedoch ist unbedingt sicherzustellen, dass den Parteien diese Mitteilung zugeht (BVerfG NJW 06, 2248 [BVerfG 21.03.2006 - 2 BvR 1104/05], BayVerfGH, NJW-RR 08, 1312 [VerfGH Bayern 02.04.2008 - Vf. 90-VI-07]), etwa durch Zustellungsurkunde oder Empfangsbekenntnis bei anwaltlicher Vertretung und unter Beachtung der Vorgaben gem § 172 Abs 1 S 1 (BVerfG v 27.5.20 – 2 BvR 1809/17), verbunden mit entsprechender ausdrücklicher Fristsetzung für wechselseitigen Vortrag (BVerfGE v 8.6.18 – 1 BvR 896/17, vgl Rn 7). Dies erfordert schon der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs gem Art 103 I GG, da die Parteien sich auf die erweiterten Möglichkeiten des Gerichts bei der Verfahrensgestaltung, insb die Entscheidung ohne vorherige mündliche Verhandlung, einrichten können müssen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass den Parteien iE die beabsichtigte Verfahrensweise des Gerichts angekündigt werden müsste. Dies würde den Vereinfachungs- und Beschleunigungszweck konterkarieren und dem Richter zusätzliche Arbeit bereiten, insb etwa auch, wenn er im Laufe des Verfahrens von der anfangs angekündigten Verfahrensweise aus Zweckmäßigkeitsgründen – die Anordnung des vereinfachten Verfahrens ist nicht bindend (MüKoZPO/Deubner Rz 12) – insgesamt oder in einzelnen Punkten wieder abrücken wollte (Anders/Gehle/Bünnigmann ZPO Rz 19; aA ua HK-ZPO/Pukall Rz 5, ThoPu/Reichold Rz 2; die Entscheidung BVerfG NJW-RR 94, 254 [BVerfG 04.08.1993 - 1 BvR 279/93], auf die in diesem Zusammenhang immer wieder verwiesen wird, gibt insoweit für die Gegenmeinung gerade nichts her).

II. Verfahrensgestaltung.

1. Ermessen.

 

Rn 6

Bei der Verfahrensgestaltung selbst ist der Amtsrichter grds im Rahmen billigen, also pflichtgemäßen Ermessens völlig frei (Anders/Gehle/Bünnigmann ZPO Rz 12). ›Sein Verfahren‹ iSd § 495a umfasst das gesamte Verfahren von dessen Einleitung bis zu dessen Abschluss (Anders/Gehle/Bünnigmann ZPO Rz 11). Eine Beschränkung des amtsrichterlichen Ermessens erfolgt insoweit allerdings aufgrund der allgemeinen Verfahrensgrundsätze und der Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren, die im Wesentlichen Ausformungen des Verfassungsrechts sind, insb das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs gem Art 103 I GG in seinen verschiedenen Ausprägungen (etwa Verbot von Überraschungsentscheidungen, BVerfGE v 20.9.12 – 1 BvR 1633/09; BayVerfGH NJW-RR 01, 1647 [VerfGH Bayern 30.03.2001 - Vf. 46-VI-00] und v 27.5.11 – Vf.127-VI-10), das Verhältnismäßigkeitsgebot, die Neutralitätspflicht, das Öffentlichkeitsprinzip, der Grundsatz des fairen Verfahrens etc, aber auch etwa der Beibringungsgrundsatz und das Parteiprinzip (vgl insoweit HK-ZPO/Pukall Rz 6). Nachdem sich diese Grundsätze in vielen Fällen gerade in den entsprechenden gesetzlichen Regelungen manifestiert haben, engt dies die praktische Bedeutung des vom Gesetzeswortlaut gem § 495a S 1 suggerierten weiten Ermessensspielraums des Amtsrichters letztlich nicht unerheblich wieder ein (Zö/Herget Rz 8 mwN; aA Anders/Gehle/Bünnigmann ZPO Rz 11f). Die Einschränkung gilt auch und gerade für etwaige Verfahrensverstöße, die gem § 295 II unheilbar sind und auf deren Rüge eine Partei nicht wirksam verzichten kann (Anders/Gehle/Bünnigmann ZPO Rz 14). Unzulässig ist in diesem Zusammenhang auch die Verweisung gem § 281 ohne vorherigen Antrag der Parteien bei örtlicher Unzuständigkeit des angerufenen AG (anders AG Bergen v 5.11.12 – 23 C 389/12 – obiter dictum).

2. Einschränkungen.

 

Rn 7

Nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt, weil nicht vom ›Verfahren‹ iSd § 495a S 1 erfasst, sind jedenfalls das gesamte materielle Recht (LG Baden-Baden NJW 94, 1088 mwN), die Vorschriften über Rechtsweg und Zuständigkeit, die Bindung an die Anträge der Parteien gem § 308 I sowie insb die Beweislastregeln (Musielak/Voit/Wittschier Rz 5 mwN). Raum für richterliche Gestaltungsfreiheit bleibt insoweit in erster Linie im Hinblick auf die Durchführung der Beweisaufnahme gem §§ 355–455 (Musielak/Voit/Wittschier Rz 6; MüKoZPO/Deubner Rz 13). Einen erheblichen Vereinfachungs- und Beschleunigungseffekt bietet jedoch auch die Möglichkeit, iRd Verfahrens nach § 495a ohne die sonst in § 128 II geregelten Einschränkungen im schriftlichen Verfahren zu entscheiden, auch in dieses noch nach Anberaumung eines Verhandlungstermins zu wechseln, wenn nicht eine der Parteien gem § 495a S 2 die Durchführung der mündlichen Verhandlung beantragt. Auch für Videoverhandlungen dürfte der Spielraum des Gerichts größer sein als bisher in § 128a geregelt. Insb darf nach dem Normzweck des § 495a eine Zeugenvernehmung oder Sachverständigenanhörung auch ohne entsprechenden Antrag iSd § 1...

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