Gesetzestext

 

(1) 1Der Beweis durch Augenschein wird durch Bezeichnung des Gegenstandes des Augenscheins und durch die Angabe der zu beweisenden Tatsachen angetreten. 2Ist ein elektronisches Dokument Gegenstand des Beweises, wird der Beweis durch Vorlegung oder Übermittlung der Datei angetreten.

(2) 1Befindet sich der Gegenstand nach der Behauptung des Beweisführers nicht in seinem Besitz, so wird der Beweis außerdem durch den Antrag angetreten, zur Herbeischaffung des Gegenstandes eine Frist zu setzen oder eine Anordnung nach § 144 zu erlassen. 2Die §§ 422 bis 432 gelten entsprechend.

(3) Vereitelt eine Partei die ihr zumutbare Einnahme des Augenscheins, so können die Behauptungen des Gegners über die Beschaffenheit des Gegenstandes als bewiesen angesehen werden.

A. Normzweck.

 

Rn 1

Zweck der Norm ist es, dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nachzukommen. Der Augenschein wird dem Gericht praktisch immer einen unmittelbareren Eindruck von dem Beweisgegenstand verschaffen als andere Methoden der Beweiserhebung, insb die Schilderung bestimmter Zustände durch Zeugen. § 144 I 1 eröffnet dem Gericht die Möglichkeit, nach seinem Ermessen vAw die Einnahme eines Augenscheins anzuordnen (vgl § 144 Rn 3). Dagegen ist der Augenschein iSd § 371 I 1 ein echtes Beweismittel der Partei (Musielak/Voit/Huber § 371 Rz 1), mit der Folge, dass er, sofern er ordnungsgemäß beantragt ist, auch nur unter den allgemeinen Voraussetzungen abgelehnt werden kann (s.u. Rn 8).

B. Die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen.

I. Inhaltlich.

1. Sinneswahrnehmung.

 

Rn 2

Der ›Augenschein‹ erfolgt nicht nur durch Sehen, sondern durch alle Sinne, also auch durch Gehör (zB Anhören von Lärmquellen; Abspielen von Musikstücken zur Feststellung von Urheberrechtsverletzungen), Geruch (zB iRv § 906 I BGB: Zuführung von Gasen, Dämpfen und Gerüchen auf ein Grundstück), Geschmack (zB von Lebensmitteln) oder durch den Tastsinn (zB zur Ermittlung der Qualität von Materialien). In der Lebenswirklichkeit wird Hauptanwendungsfall des Augenscheins jedoch der sog ›Ortstermin‹, also die Besichtigung einer Gegebenheit (häufig außerhalb des Gerichtsgebäudes) zur Feststellung entscheidungsrelevanter Tatsachen sein.

Sofern es bei der Augenscheinseinholung nicht um den Gesichtssinn selbst geht, kann auch ein blinder Richter sich dieses Beweismittels ohne Weiteres bedienen. Bedenklich erscheint dagegen die Auffassung, auch ohne eine formelle Übertragung der Beweisaufnahme auf einen sehenden Richter (§ 375 II) könnten die sehenden Mitglieder eines Spruchkörpers dem blinden Kollegen das Ergebnis eines Augenscheins vermitteln (Frankf MDR 10, 1015 [OLG Nürnberg 23.03.2010 - 4 W 2234/09], Rz 8).

2. Abgrenzung.

 

Rn 3

Von den anderen Beweismitteln ist der Augenschein dadurch abzugrenzen, dass hierbei eine Person oder (häufiger) eine Sache sinnlich wahrgenommen wird und nicht nur (wie insb bei Urkunden und Zeugenaussagen) ein Gedankeninhalt wiedergegeben wird. Unterscheidet sich also der Augenscheinsbeweis vom Urkundenbeweis dadurch, dass bei letzterem nicht eigentlich die äußere Erscheinung der Urkunde, sondern vielmehr die in ihr verkörperte Gedankenerklärung Gegenstand der Feststellung ist, so können äußere Merkmale der Urkunde sehr wohl Gegenstand des Augenscheinsbeweises sein (Musielak/Voit/Huber § 371 Rz 5), etwa wenn sie zur Feststellung des Alters der Urkunde dienen sollen. Ebenso kann ein Zeuge oder die Partei (Diercks-Harms MDR 11, 462, 466) zum Gegenstand des Augenscheinsbeweises werden, etwa wenn es um das Aussehen der Person geht. Ein von einem Sachverständigen eingeholter Augenschein (zB in Verkehrssachen: Besichtigung einer Unfallstelle oder eines beschädigten Fahrzeuges) bleibt Sachverständigen-, nicht Augenscheinsbeweis, sofern nicht der Sachverständige als bloßer Augenscheinsgehilfe des Gerichts eingesetzt wird (Musielak/Voit/Huber § 371 Rz 5; ein im wirklichen Leben praktisch nicht vorkommender Fall, weil es stets auch um die besondere Sachkunde des Sachverständigen gehen wird).

3. Beweislast.

 

Rn 4

Die Beweislast für die Echtheit oder Identität des Augenscheinsobjektes trägt der Beweisführer (Musielak/Voit/Huber § 371 Rz 6), sofern es sich nicht um einen nach § 144 angeordneten Augenschein handelt, bei dem die allgemeinen Beweislastregeln gelten. Die Beweislast trifft also denjenigen, der sich auf eine für ihn günstige Tatsache beruft, zu deren Feststellung der Augenschein dienen soll (BeckOKZPO/Bach § 372 Rz 3).

4. Beweiswürdigung.

 

Rn 5

Die Würdigung des Beweiswertes eines einmal eingeholten Augenscheins obliegt dem erkennenden Gericht mit der Folge, dass weitere Instanzen – wie bei anderen Beweismitteln auch (vgl

§ 398 Rn 4) – dem Beweisergebnis keine andere Bedeutung zuerkennen dürfen, wenn sie den Augenschein nicht selbst erneut einholen (BGH NJW-RR 86, 190, 191 [BGH 21.05.1985 - VI ZR 235/83]; KG NJW-RR 94, 599, 601 [KG Berlin 10.12.1993 - 24 W 6967/93]).

II. Formell.

1. Beweisantritt.

 

Rn 6

Schon die Formulierung des § 371 zeigt, dass es sich dabei um ein Beweismittel handelt, das durch förmlichen Antritt (§ 371 I 1), also durch antragsmäßige Benennung von Thema und Objekt in den Prozess eingeführt wird, sofern der Augenschein nicht vAw a...

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