Ebenso wie bei über die Grundstücksgrenze wachsenden Wurzeln berechtigt das bloße Hinüberwachsen von Zweigen aus dem Nachbargrundstück noch zu keinen Abwehrmaßnahmen des davon betroffenen Grundstückseigentümers gemäß §§ 910, 1004 BGB. Voraussetzung ist vielmehr eine konkrete Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung (§ 910 Abs. 2 BGB).[1] Der Gesetzgeber will mit dieser Formulierung deutlich machen, dass nicht der Entzug von Nahrung und Feuchtigkeit allein zu einem Abwehrrecht führt. Erst Beeinträchtigungen, die so gravierend sind, dass die "Fruchtgewinnung" verkürzt oder die Bestellung des Grundstücks erschwert wird, sollen nach Vorstellung des historischen Gesetzgebers zum Abschneiderecht führen.[2]

[1] So LG Kleve, Urteil v. 13.10.1982, 3 S 203/81, MDR 1982 S. 230; LG Hannover, Urteil v. 25.3.1988, 10 S 89/87, NuR 1990 S. 45; OLG Oldenburg, Urteil v. 25.7.1990, 4 U 89/89, NJW-RR 1991 S. 1367.
[2] Vgl. hierzu OLG Köln, Urteil v. 22.5.1996, 11 U 6/96, NJW-RR 1997 S. 656.

5.2.1 Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung

Eine konkrete Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung in dem dargestellten Sinn wird man etwa dann annehmen können, wenn bei einem Nutzgarten eine ordnungsgemäße und störungsfreie Pflege der an der Grundstücksgrenze gelegenen Beete nicht möglich ist oder Baumzweige rund einen Meter in die Garageneinfahrt, über das Garagendach und den Rasen hinüberragen.[1]

Keine Beeinträchtigung

Keine konkrete Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung sieht die Rechtsprechung etwa in den Fällen, in denen

  • ein Ziergarten durch den Zweigüberwuchs aus dem Nachbargrundstück (in etwa 2 m Höhe bis 2 m hineinwachsend) beeinträchtigt wird[2],
  • der Überwuchs in 2,50 m Höhe über einer Garagenzufahrt beginnt und daher die Benutzung der Zufahrt nicht behindert[3] oder
  • die Beeinträchtigung durch Schattenwurf nicht durch den Zweigüberwuchs entsteht, sondern durch das Vorhandensein hochgewachsener Bäume auf dem Nachbargrundstück bedingt ist, woran sich durch die Beseitigung des Überwuchses nichts ändern würde.[4]
[2] So OLG Köln, Urteil v. 22.5.1996, 11 U 6/96, NJW-RR 1997 S. 656.
[4] So LG Hannover, Urteil v. 25.3.1988, 10 S 89/87, NuR 1990 S. 45; OLG Oldenburg, Urteil v. 25.7.1990, 4 U 89/89, NJW-RR 1991 S. 1367; OLG Köln, Urteil v. 22.5.1996, 11 U 6/96, NJW-RR 1997 S. 656.

5.2.2 Selbsthilferecht

Liegt eine konkrete Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung in dem oben dargestellten Sinn vor, kann der Grundstückseigentümer von seinem Selbsthilferecht nach § 910 BGB Gebrauch machen und die überwachsenden Zweige abschneiden und behalten. Das gilt auch, wenn dadurch das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.[1]

 
Achtung

Umfang des Rückschnitts

Die Zweige dürfen nur bis zur Grundstücksgrenze und nicht darüber hinaus und im Übrigen nur so weit abgeschnitten werden, als sie die Grundstücksnutzung tatsächlich beeinträchtigen.

Fristsetzung

Das Selbsthilferecht dürfen Sie erst dann ausüben, wenn Sie zuvor Ihrem Nachbarn eine angemessene Frist zur Beseitigung der überwachsenden Zweige gesetzt haben und er diese Frist hat verstreichen lassen, ohne aktiv zu werden. ([2]

Wie lange die Frist bemessen sein muss, um angemessen zu sein, sagt das Gesetz nicht. Dies kommt vielmehr auf den Einzelfall an und richtet sich nach dem Umfang der erforderlichen Arbeiten, nach der Jahreszeit und den Geboten einer sachgerechten Baumpflege. Insbesondere kann niemand verlangen, dass die Zweige eines Obstbaums während der Wachstumsperiode oder kurz vor der Ernte abgeschnitten werden. Eine Fristsetzung sollte jedoch allgemein dem Betroffenen die Möglichkeit zum Handeln lassen, sodass etwa 4 bis 6 Wochen angemessen scheinen. Im Übrigen sollte der Rückschnitt außerhalb der Wachstumsperiode von April bis September gelegt werden.

 
Hinweis

Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg regelt die Sondervorschrift des § 23 NRG überragende Zweige. Nach dieser Vorschrift kann die Beseitigung des Überhangs eines Obstbaums bis zur Höhe von 3 m verlangt werden. Die Beseitigung eines Überhangs bis zur vollen Höhe kann bei jedem Baum verlangt werden, wenn das betroffene Grundstück erwerbsgartenbaulich oder landwirtschaftlich genutzt wird, ein Hofraum ist oder die Zweige auf ein auf dem benachbarten Grundstück stehendes Gebäude hereinragen oder den Bestand oder die Benutzung eines Gebäudes beeinträchtigen oder die Errichtung eines Gebäudes unmöglich machen oder erschweren.

 
Achtung

Unterlassene Fristsetzung

Wenn Sie überwachsende Zweige ohne Fristsetzung abschneiden, handeln Sie rechtswidrig. Soweit Ihnen Verschulden (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) zur Last gelegt werden kann, können Sie vom Nachbarn schadenersatzpflichtig gemacht werden (§ 823 Abs. 1 BGB). Einer Schadensersatzpflicht entgehen Sie dann nur, wenn der Schaden an den von Ihnen gestutzten Bäumen oder Sträuchern auch bei Fristwahrung entstanden wäre.[3]

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