Entscheidungsstichwort (Thema)

"Richtungsweisende Veränderung" im Zivilverfahren nicht maßgeblich

 

Normenkette

ZPO § 287

 

Verfahrensgang

LG Ingolstadt (Urteil vom 30.12.2009; Aktenzeichen 52 O 37/08)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers vom 4.2.2010 wird das Endurteil des LG Ingolstadt vom 30.12.2009 (Az. 52 O 37/08) samt dem ihm zugrunde liegenden Verfahren aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG Ingolstadt zurückverwiesen.

2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem LG Ingolstadt vorbehalten.

Gerichtsgebühren für die Berufungsinstanz werden nicht erhoben.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

A. 1Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 II, 313a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).

 

Entscheidungsgründe

B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.

I. Das LG hat zu Unrecht Ansprüche des Klägers aus dem Verkehrsunfall vom 21.11.2006 auf der Staatsstraße 2214 im Landkreis N. verneint.

Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist unstreitig. Eine Begründung, weswegen dem Kläger seine geltend gemachten Ansprüche auf Sachschaden i.H.v. 560 EUR (vgl. Tatbestand S. 3) nicht zustehen, enthalten die Entscheidungsgründe nicht. Hierüber wird nach der Zurückverweisung zu entscheiden sein.

Hinsichtlich des geltend gemachten Verdienstausfallschadens wegen der beim Unfall behaupteten erlittenen Verletzungen hat das Erstgericht § 287 ZPO übersehen, eine gebotene Beweiserhebung (biomechanisches Gutachten) unterlassen und ein an falschen Parametern ausgerichtetes Gutachten unkritisch übernommen.

1. Das Erstgericht hat im Ersturteil nicht ausgeführt, welches Beweismaß es seiner Entscheidung zugrunde legt. Da der Kläger unstreitig beim Unfall Primärverletzungen erlitten hat, musste hinsichtlich der weiteren Unfallfolgen das Beweismaß des § 287 ZPO zugrunde gelegt und die insoweit geltenden Regeln beachtet werden.

a) Die Frage, ob der Kläger überhaupt eine unfallbedingte Verletzung erlitten hat, ist eine solche der haftungsbegründenden Kausalität, für welche der Kläger den Vollbeweis nach § 286 I ZPO zu führen hat (BGH VersR 2003, 474 = NJW 2003, 1116 = DAR 2003, 217; VersR 2008, 1126 und 1133; OLG München SP 2002, 347 f.; NZV 2003, 474 [475] und Urt. v. 28.7.2006 - 10 U 1684/06 [Juris]; KG VersR 2006, 1233 f.).

b) Ob über diese Primärverletzung hinaus der Unfall auch für weitere Beschwerden des Klägers ursächlich ist, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, die sich gem. § 287 ZPO beurteilt (BGH VersR 2003, 474 = NJW 2003, 1116 = DAR 2003, 217; NJW 2004, 777 [778]; KG VersR 2004, 1193 = VRS 106 [2004] 260; Senat, Urt. v. 28.7.2006 - 10 U 1684/06 [Juris]; OLG Schleswig NZV 2007, 203; Müller VersR 2003, 137 [142 unter III 1, 2]). Bei der Ermittlung dieses Kausalzusammenhangs zwischen dem Haftungsgrund und dem eingetretenen Schaden unterliegt der Tatrichter nicht den strengen Anforderungen des § 286 ZPO, vielmehr ist er nach Maßgabe des § 287 ZPO freier gestellt: Zwar kann der Tatrichter auch eine haftungsausfüllende Kausalität nur feststellen, wenn er von diesem Ursachenzusammenhang überzeugt ist; im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 287 ZPO werden aber geringere Anforderungen an seine Überzeugungsbildung gestellt - hier genügt, je nach Lage des Einzelfalls, eine höhere oder deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung (ausführlich BGH VersR 1970, 924 [926 f.]; NJW 1994, 3295 ff.; 2003, 1116 [1117]; 2004, 777 [778]; VersR 2005, 945 = NJW-RR 2005, 897 = DAR 2005, 441 = SP 2005, 259 = NZV 2005, 461 = MDR 2005, 1108 = VRS 109 [2005] 98 = r+s 2006, 38 = BGHReport 2005, 1107; OLG München, Urt. v. 27.1.2006 - 10 U 4904/05, NZV 2006, 261 [262], v. 28.7.2006 - 10 U 1684/06 [Juris] und v. 15.9.2006 - 10 U 3622/99, r+s 2006, 474 546 m. zust. Anm. von Lemcke = NJW-Spezial 2006, 546 m. zust. Anm. von Heß/Burmann [Nichtzulassungsbeschwerde vom BGH durch Beschl. v. 8.5.2007 - VI ZR 29/07 zurückgewiesen]; OLG Schleswig NZV 2007, 203 [204]).

2. Das LG durfte hier nicht von der Erholung eines biomechanischen Sachverständigengutachtens absehen.

Die biomechanische Begutachtung bestimmt die Belastung, der der Betroffene ausgesetzt war (OLG München, Urt. v. 28.7.2006 - 10 U 1684/06 [Juris];Walz/Muser, a.a.O.; Becke/Castro/Hein/Schimmelpfennig NZV 2000, 225 [226, 235]). Sie berücksichtigt über die Unfalldaten hinaus die konstitutionellen und medizinischen Besonderheiten der betroffenen Person im Einzelfall. Hilfsmittel zur fallbezogenen biomechanischen Beurteilung sind u.a. Resultate aus Freiwilligenversuchen, biomechanische Belastungsstudien, epidemiologische Unfallstatistiken und allgemeine biomechanische Grundsätze (Walz/Muser, a.a.O.; Schnider et al., Beschwerdebild nach kraniozervikalem Beschleunigungstrauma ["whiplash-associated disorder"], in: Schweizerische Ärztezeitung 81 [2000] 2218 [...

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