Entscheidungsstichwort (Thema)

Reparaturkosten, Unfall, Anscheinsbeweis, Berufung, Haftungsquote, Schadensminderungspflicht, Prozesskostenhilfe, Haftungsverteilung, Geschwindigkeit, Ersatzbeschaffung, Nutzungsausfall, Auffahrunfall, Fahrzeug, Schmerzensgeld, von Amts wegen, Sinn und Zweck, Rechtsprechung des BGH

 

Verfahrensgang

LG München II (Urteil vom 01.04.2021; Aktenzeichen 1 O 4787/13)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten vom 19.04.2021 wird das Endurteil des LG München II vom 01.04.2021 (Az. 1 O 4787/13) abgeändert und wie folgt neu gefasst:

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 3.274,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 3.042,00 EUR von 29.03.2014 bis 13.01.2017 und aus 3.274,00 EUR seit 14.01.2017 zu zahlen.

2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 500,00 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 14.01.2017 zu zahlen.

3. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 413, 64 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 28.03.2014 zu zahlen.

4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

5. Die Berufung wird im Übrigen zurückgewiesen.

II. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin 86% und die Beklagten samtverbindlich 14%. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin 84% und die Beklagten samtverbindlich 16%.

III. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

A. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).

B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache zumindest teilweise Erfolg.

I. Das Landgericht ist zu Unrecht von einer vollständigen Haftung der Beklagtenseite ausgegangen:

1. Das Erstgericht ist im Ansatzpunkt zutreffend davon ausgegangen, dass gegen die Beklagte zu 1) als Auffahrende zunächst der erste Anschein einer Sorgfaltspflichtverletzung spricht. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei Auffahrunfällen, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein dafür sprechen kann, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO; BGH, VersR 2017, 374, m.w.N.; Senat, Urteil vom 25. Oktober 2013 - 10 U 964/13 -, Rn. 6, juris; (Senat, Urteil vom 09. Februar 2022 - 10 U 1962/21 -, Rn. 23, juris).

2. Entgegen der Auffassung des Erstgerichts ist es den Beklagten aber gelungen, den gegen die Beklagte zu 1) sprechenden Anschein zu erschüttern. Erschüttert ist der Anscheinsbeweis, wenn die ernsthafte (reale) Möglichkeit eines anderen als des erfahrungsgemäßen Geschehensablaufs besteht (BGHZ 8, 239 [240] = NJW 1953, 584 = DAR 1953, 55; BGH, NJW-RR 1986, 384 = DAR 1985, 316). Die Tatsachen, aus denen diese ernsthafte Möglichkeit hergeleitet wird, müssen unstreitig oder (voll) bewiesen sein (BGHZ 6, 169 [171] = NJW 1952, 1137; BGHZ 8, 239 [240] = NJW 1953, 584 = DAR 1953, 55). Zweifel gehen zulasten dessen, gegen den der Anscheinsbeweis streitet. Bei erfolgreicher Erschütterung besteht wieder die beweisrechtliche Normallage (s. dazu BGHZ 2, 1 [5] = NJW 1951, 653; BGHZ 6, 169 [171] = NJW 1952, 1137) (Senat, NZV 2014, 416, beck-online).

Die Beklagten vermochten vorliegend gerade darzulegen und zu beweisen, dass die Klägerin einen schuldhaften Mitverursachungsbeitrag an dem Auffahrgeschehen gesetzt hat. Der rechtlichen Auffassung des Erstgerichts, wonach von einem schuldhaften Mitverursachungsbeitrag der Klägerin deswegen nicht ausgegangen werden könne, da nicht feststehe, dass "die Klägerin ihr Fahrzeug völlig zum Stillstand brachte" (vgl. Seite 9 des EU), kann nicht gefolgt werden.

Den Beklagten ist zuzugeben, dass das Erstgericht insoweit die Anforderungen des § 4 I Satz 2 StVO überspannt. Nach § 4 I Satz 2 StVO darf, wer vorausfährt, nicht ohne zwingenden Grund stark bremsen. Ein "starkes" Bremsen im Sinne der Vorschrift liegt dann vor, wenn es deutlich über das Maß eines "normalen" Bremsvorganges hinausgeht (KG NZV 2003, 41) (vgl. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Burmann, 26. Aufl. 2020, StVO § 4 Rn. 15). Ein Abbremsen bis zum völligen Stillstand (vgl. Seite 9 des EU) verlangt die Vorschrift aber gerade nicht. "Der Pflicht des Nachfolgenden, Abstand zu halten, entspricht die Pflicht des Vordermannes, zur Verhütung von Auffahrunfällen durch verkehrsgerechtes, allmähliches Bremsen beizutragen (OLG Stuttgart VM 1979, 28)" (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Burmann, a.a.O.). Verletzt er diese Pflicht, so ist er am Auffahrunfall zum...

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