Leitsatz (amtlich)

1. Seit dem Vollzug des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union gemäß Art. 50 EUV durch Ablauf der Übergangsfrist am 31.12.2020 ist eine britische Limited, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in Deutschland hat, nach der sogenannten milden Form der Sitztheorie je nach tatsächlicher Ausgestaltung als GbR, OHG oder - bei nur einer Gesellschafterin - als einzelkaufmännisches Unternehmen zu behandeln.

2. Eine Fortgeltung der Gründungstheorie mit der Konsequenz der fortbestehenden Rechts- und Parteifähigkeit einer britischen Limited trotz tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland wie unter der Geltung der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49, 54 AEUV folgt nicht aus dem Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich vom 24.12.2020 (ABl. L 444/2020 vom 31.12.2020), weil es keine Vorschriften enthält, die ausdrücklich und unmittelbar die Niederlassungsfreiheit gewähren, sondern sich aus seinem Anhang SERVIN-1 Nr. 10 vielmehr ergibt, dass die Parteien des Abkommens die Niederlassungsfreiheit gerade nicht in Bezug nehmen oder vereinbaren wollten.

 

Normenkette

AEUV Art. 49, 54; EUV Art. 50; Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich Anhang SERVIN-1 Nr. 10 Fassung: 2020-12-24; ZPO § 50 Abs. 1, § 56

 

Verfahrensgang

LG München I (Aktenzeichen 37 O 3787/21)

 

Tenor

I. Die Berufung der Antragstellerin gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 23.04.2021, Az. 37 O 3787/21, wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass das Urteil abgeändert und wie folgt neu gefasst wird:

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wird als unzulässig zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz trägt die Direktorin der Antragstellerin, Frau ....

II. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Direktorin der Antragstellerin, Frau ....

 

Gründe

I. Die Antragstellerin macht im Wege eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung einen kartellrechtlichen Unterlassungsanspruch wegen einer Preisbindung für Kosmetikprodukte geltend.

Die Antragsgegnerin zu 1) vertreibt über ein selektives Vertriebssystem mit Hilfe sogenannter Depositäre kosmetische Produkte unter anderem in Deutschland. Die Antragsgegnerin zu 2) ist die Geschäftsführerin der Antragsgegnerin zu 1).

Die Antragstellerin behauptet, eine Onlinehändlerin für Kosmetikwaren zu sein.

Im Februar 2021 brachte die Antragsgegnerin zu 1) eine Produktserie namens "..." auf den Markt, wobei für acht Produkte für einen Zeitraum von vier Monaten zwischen dem 15.02.2021 und dem 14.06.2021 eine Preisbindung gemäß Ziffer IV 7. der zwischen den Depositären und der Antragsgegnerin zu 1) geschlossenen Depotverträge (Anlage AG 3) gelten sollte (Anlage ASt 1).

Das Landgericht München I hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung durch Urteil vom 23.04.2021, Az. 37 O 3787/21 (Bl. 71/81 d.A.), zurückgewiesen.

Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird auf das Urteil des Landgerichts München I vom 23.04.2021 Bezug genommen.

Die Antragstellerin greift das Urteil mit ihrer Berufung an und verfolgt ihren Verfügungsantrag weiter.

Im Übrigen wird von einem Tatbestand nach §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1, 542 Abs. 2 Satz 1 ZPO abgesehen.

II. Die Berufung der Antragstellerin ist unbegründet.

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ist unzulässig, insbesondere ist die Antragstellerin mangels Rechtsfähigkeit nicht parteifähig im Sinne von § 50 Abs. 1 ZPO.

a) Die Voraussetzungen der Parteifähigkeit sind gemäß § 56 ZPO von Amts wegen, in jeder Lage des Verfahrens und in jedem Rechtszug zu prüfen. Die objektive Beweislast für ihre Parteifähigkeit trägt die ein Sachurteil begehrende Antragstellerin (vgl. BGH NJW 1996, 1059). Es gilt das Freibeweisverfahren (BGH NJW 2000, 290).

b) Die Antragstellerin hatte ihre Rechtsfähigkeit bereits mit Vollzug des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union gemäß Art. 50 EUV mit Ablauf der Übergangsfrist am 31.12.2020 (sog. Brexit), also bereits vor Antragstellung am 22.03.2021, verloren, weil davon auszugehen ist, dass sich ihr tatsächlicher Verwaltungssitz in Deutschland befindet.

Grundsätzlich findet gegenüber Drittstaaten wegen der weder im sekundären Unionsrecht (vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. f) Rom I-VO und Art. 1 Abs. 2 lit. d) Rom II-VO) noch im autonomen deutschen Recht (vgl. Art. 7 bis 10 EGBGB) enthaltenen Kollisionsregeln für Gesellschaften und juristische Personen aufgrund gewohnheitsrechtlicher Geltung die sogenannte Sitztheorie Anwendung. Danach ist auf eine Gesellschaft das Recht des Staates anzuwenden, das am Sitz der Gesellschaft gilt. Unter Sitz ist dabei der tatsächliche Verwaltungssitz zu verstehen. Dieser befindet sich an dem Ort, an dem die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden (sog. Sandrock'sche-Formel, vgl. BGHZ 97, 269, 272).

Die Antragstellerin hat aufgrund der im W...

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