Leitsatz (amtlich)

›Der Kläger hat zwar das Risiko der Nichterweislichkeit seiner Prozeßfähigkeit zu tragen, da ihn insoweit eine "objektive" Beweislast trifft. Jedoch ist das Gericht gehalten, von Amts wegen alle infragekommenden Beweise, insbesondere durch Einholung von Sachverständigengutachten, zu erheben, um Zweifel an der Prozeßfähigkeit nach Möglichkeit aufzuklären; den Kläger trifft hier keine "subjektive" Beweisführungslast.‹

 

Verfahrensgang

OLG München

LG München I

 

Tatbestand

Der Kläger macht gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche wegen des Verlusts von Sammlermünzen geltend.

Die Beklagten zu 1) und 2) sind Inhaber eines Unternehmens, das sich unter anderem mit der Versteigerung von Münzen befaßt. Der Kläger hat im Jahre 1990 aufgrund eines Versteigerungsvertrages eine Sammlung von 5.250 Münzen an dieses Unternehmen übergeben; seinerzeit ist eine Einlieferungsliste erstellt worden. Die angesetzte Versteigerung hat nicht zum Erfolg geführt. Nach Kündigung des Versteigerungsvertrages hat der Beklagte zu 3) als Sachverständiger eine Aufstellung über die dem Kläger wieder zur Verfügung gestellten Münzen gefertigt und diese mit der Einlieferungsliste verglichen, wobei er keine wesentlichen Beanstandungen erhoben hat.

Der Kläger hat vorgetragen, die Beklagten zu 1) und zu 2) hätten ihm die eingelieferten Münzen nicht vollständig zurückgegeben; teilweise habe er auch wertlose anstelle wertvoller Münzen erhalten. Er ist der Ansicht, die Beklagten zu 1) und 2) hätten die fehlenden Münzen unterschlagen; sie seien dabei vom Beklagten zu 3), der als Sachverständiger bewußt unrichtige Feststellungen getroffen habe, in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken unterstützt worden.

Das Landgericht hat die auf Zahlung von Schadensersatz gegen die Beklagten zu 1) und 2) gerichtete Klage als unbegründet abgewiesen und das Verfahren gegen den Beklagten zu 3) abgetrennt. Die Berufung des Klägers, mit der er seine Klageansprüche ausdrücklich auch gegenüber dem Beklagten zu 3) weiterverfolgt hat, ist mit der Maßgabe zurückgewiesen worden, daß die Klage als (mangels Prozeßfähigkeit des Klägers) unzulässig abgewiesen wird. Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers. Der ordnungsgemäß geladene Beklagte zu 3) war im Senatstermin nicht vertreten. Gegen ihn hatte, obwohl die Entscheidung der Sache nach nicht auf seiner Säumnis beruht, Versäumnisurteil zu ergehen (vgl. BGHZ 37, 79, 81 f.).

 

Entscheidungsgründe

I. Das Berufungsgericht ist der Ansicht, die - von Amts wegen in jeder Lage des Rechtsstreits zu prüfende - Prozeßfähigkeit des Klägers sei für die Zeit von Beginn des Rechtsstreits an in erheblichem Maße zu bezweifeln. Dies ergebe sich aus zwei medizinischen Sachverständigengutachten aus den Jahren 1987 und 1990, die jeweils in einem Strafverfahren gegen den Kläger erhoben worden und in den beigezogenen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten enthalten seien. In diesen gutachtlichen Stellungnahmen werde beim Kläger eine paranoide Persönlichkeitsstörung von schwerem Ausprägungsgrad diagnostiziert, die sich in unkorrigierbaren Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen bis hin zu psychischer Vernichtungsangst äußere und immer deutlicher werdende Hinweise auf eine residuale Beeinträchtigung erkennen lasse, die auf eine Psychose des schizophrenen Formenkreises hinweise. Feindselige Mißdeutungen gegenüber Umgebungspersonen, Uneinsichtigkeiten und Unkorrigierbarkeiten hätten sich immer weiter fixiert und vertieft. Die hieraus resultierenden deutlichen Zweifel an der Prozeßfähigkeit des Klägers seien, wie das Berufungsgericht ausführt, auch weder durch seinen Sachvortrag im vorliegenden Verfahren noch durch den persönlichen Eindruck, den das Berufungsgericht habe gewinnen können, beseitigt worden. Beweis für seine Prozeßfähigkeit in der Form eines psychiatrischen Fachgutachtens habe der Kläger trotz Hinweises darauf, daß ihn die Beweislast für seine Prozeßfähigkeit treffe, nicht angeboten. Da die sonach verbleibenden Zweifel an seiner Prozeßfähigkeit zu Lasten des Klägers gingen, erweise sich die Klage als unzulässig.

II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts vermögen seine Beurteilung, die Klage sei mangels Prozeßfähigkeit des Klägers unzulässig, nicht zu tragen.

1. Die Zulässigkeit der Revision begegnet keinen Bedenken im Hinblick auf die im Berufungsurteil dargelegten Zweifel an der Prozeßfähigkeit des Klägers. Das Rechtsmittel einer Partei, die sich dagegen wendet, daß sie in der Vorinstanz zu Unrecht als prozeßunfähig behandelt worden sei, ist ohne Rücksicht darauf zulässig, ob die für die Prozeßfähigkeit erforderlichen Voraussetzungen festgestellt werden können (vgl. BGHZ 110, 294, 295 f.).

2. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß bei Prüfung der Zulässigkeit der Klage der Mangel der Prozeßfähigkeit einer Partei in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen ist (vgl. BGHZ 86, 184, 188; Senatsurteile vom 4. Februar 1969 - VI ZR 215/67 - NJW 1969, 1574 und vom 16. Juni 1970 - VI ZR 98/69 - NJW 1970, 1683).

a) Zwar sind nach der Lebenserfahrung Störungen der Geistestätigkeit als Ausnahmeerscheinungen anzusehen, so daß im allgemeinen von der Prozeßfähigkeit einer Partei auszugehen ist; dies kann allerdings dann nicht gelten, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür gegeben sind, daß Prozeßunfähigkeit vorliegen könnte (vgl. BGHZ 18, 184, 189 f.; 86, 184, 189). Ist letzteres der Fall und läßt sich die Prozeßfähigkeit des Klägers nicht feststellen, so gehen verbleibende Zweifel zu seinen Lasten.

b) Indessen bedeutet dies nur, daß die "objektive" Beweislast im Sinne eines Risikos der Nichterweislichkeit seiner Prozeßfähigkeit vom Kläger zu tragen ist; hingegen trifft ihn nicht auch die "subjektive" Beweisführungslast. Vielmehr ist insoweit das Gericht gehalten, da es um eine Prozeßvoraussetzung geht, alle in Frage kommenden Beweise von Amts wegen zu erheben, wobei es nicht an die förmlichen Beweismittel des Zivilprozesses gebunden ist, weil der Grundsatz des "Freibeweises" gilt. Muß daher das Gericht von sich aus alles tun, um die Frage der Prozeßfähigkeit soweit wie möglich einer Klärung zuzuführen, so kommt eine Beweislastentscheidung zu Ungunsten des Klägers erst dann in Betracht, wenn sich nach Erschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisquellen nicht klären läßt, ob seine Prozeßfähigkeit vorliegt (vgl. dazu BGHZ 18, 184, 190; BGH, Urteil vom 9. Mai 1962 - IV ZR 4/62 - NJW 1962, 1510); erst die in diesem Sinne "nicht aufklärbaren Zweifel" gehen zu Lasten der betroffenen Partei (vgl. BGHZ 86, 184, 189).

c) Dabei kommt es, da eine im Zeitpunkt der Klageerhebung prozeßunfähige Partei die Prozeßführung später, sollte sich ihr Zustand entsprechend gebessert haben, genehmigen könnte, nicht nur auf den Zeitpunkt der Klageerhebung, sondern entscheidend auf den - auch im übrigen für das Vorliegen der Prozeßvoraussetzungen grundsätzlich maßgeblichen - Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz an.

3. Die Revision rügt zu Recht, daß das Berufungsgericht im vorliegenden Fall keinen Sachverständigenbeweis zur Frage der Prozeßfähigkeit des Klägers erhoben hat. Es hat sich vielmehr mit - urkundenbeweislich verwerteten - Gutachten aus Strafverfahren aus den Jahren 1987 und 1990 begnügt, die sich nicht mit der Problematik der Geschäfts- und Prozeßfähigkeit des Klägers, sondern mit seiner (verminderten) Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB befaßt haben. Die Voraussetzungen der strafrechtlichen Schuldfähigkeit, ihres Ausschlusses oder ihrer Verminderung im Rahmen eines konkreten strafrechtlich relevanten Sachverhalts sind aber andere als die Erfordernisse der Geschäftsfähigkeit im Zivilrecht und der Prozeßfähigkeit im Zivilprozeß. Hinzu kommt, daß das letzte vom Berufungsgericht herangezogene Gutachten vom 12. März 1990 stammt, im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht, die am 12. Dezember 1994 stattgefunden hat, also bereits mehr als 4 1/2 Jahre zurücklag, so daß es trotz seinerzeit vom Gutachter aufgestellter allgemein gehaltener Prognosen keine für den Entscheidungszeitpunkt verläßliche konkrete Beurteilungsgrundlage darstellen konnte.

4. Das Berufungsgericht hat aus diesen für die Frage der Prozeßfähigkeit des Klägers ohnehin nur sehr beschränkt aussagekräftigen Gutachten nicht den Schluß gezogen, der Kläger sei prozeßunfähig; es hat vielmehr hieraus lediglich "erhebliche Zweifel" an seiner Prozeßfähigkeit entnommen, die auch durch die persönliche Anhörung des Klägers im Berufungsrechtszug "nicht beseitigt" worden seien. Die Revision weist zu Recht darauf hin, daß das Berufungsgericht bei dieser Sach- und Verfahrenslage noch keineswegs von "nicht aufklärbaren Zweifeln" an der Prozeßfähigkeit des Klägers im Sinne der dargelegten Rechtsprechungsgrundsätze ausgehen durfte, die ohne weitere Aufklärungsbemühungen zu einer Beweislastentscheidung zu Ungunsten des Klägers führen könnten. Vielmehr hätte das Berufungsgericht hier weiteren in Betracht kommenden Aufklärungsmöglichkeiten bereits von Amts wegen nachgehen müssen.

Der Revision ist insbesondere darin zu folgen, daß das Berufungsgericht gehalten gewesen wäre, zur konkreten Frage der Geschäfts- und Prozeßfähigkeit des Klägers im für das vorliegende Verfahren maßgebenden Zeitpunkt sachverständigen Rat einzuholen; so hätte etwa einer der in den genannten Strafverfahren tätigen Gutachter zum Sachverständigen bestellt und mündlich befragt werden können. Diese prozessuale Pflicht zur Beweiserhebung von Amts wegen hat das Berufungsgericht verkannt, wenn es ausdrücklich darauf abstellt, der Kläger habe keinen Beweis für seine Prozeßfähigkeit "in der Form eines psychiatrischen Fachgutachtens" angeboten. Ersichtlich will das Berufungsgericht dem Kläger eine Beweisführungslast auferlegen, die ihn in einem Verfahrensabschnitt, in dem der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, nicht trifft. Auf diesem Verfahrensfehler beruht das Berufungsurteil.

III. Das Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Bei der erneuten Entscheidung wird das Berufungsgericht, sofern der Kläger an seiner Klageerweiterung auf den Beklagten zu 3) im Berufungsrechtszug - trotz Rechtshängigkeit des entsprechenden Klagantrags vor dem Landgericht - festhält, auch die Bedenken gegen die Zulässigkeit dieses prozessualen Vorgehens zu prüfen haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993377

NJW 1996, 1059

BGHR ZPO § 52 Beweislast 1

MDR 1996, 410

VersR 1996, 1038

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