Leitsatz (amtlich)

Die Nichtanhörung des betroffenen Kindes im Sorgerechtsverfahren ist in de Regel ein schwerer Verfahrensmangel, der es auch nach der Neuregelung des § 538 ZPO rechtfertigt, den ergangenen Beschluss nach dem freien Ermessen des Beschwerdegerichts ohne Rüge oder besonderen Antrag eines Beteiligten aufzuheben und zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

 

Verfahrensgang

AG Gummersbach (Beschluss vom 01.08.2003; Aktenzeichen 3 F 62/03)

 

Tenor

1. Dem Antragsgegner wird zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens gegen den Beschluss des AG – FamG – Gummersbach vom 1.8.2003 (3 F 62/03) ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt G in E zu den Bedingungen eines ortsansässigen Anwalts gewährt.

2. Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des AG – FamG – Gummersbach vom 1.8.2003 (3 F 62/03) aufgehoben und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das AG Gummersbach zurückverwiesen, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen wird.

 

Gründe

Das AG hat mit dem angefochtenen Beschluss die elterliche Sorge über die gemeinsamen Kinder der Antragstellerin und des Antragsgegners mit Ausnahme der Entscheidung über die Religionszugehörigkeit und -ausübung auf die Kindesmutter übertragen.

Die dagegen erhobene Beschwerde des Antragsgegners ist gem. § 621e ZPO statthaft und auch i.Ü. zulässig, insb. fristgerecht eingelegt.

In der Sache hat sie einen jedenfalls vorläufigen Erfolg.

Das amtsgerichtliche Verfahren, auf dem der angefochtene Beschluss beruht, leidet unter einem schweren Verfahrensmangel. Das AG hat die nach § 50b Abs. 1 FGG in Sorgerechtsverfahren vorgeschriebene persönliche Anhörung der betroffenen Kinder nicht durchgeführt. Die Anhörungspflicht ist Ausfluss des verfassungsrechtlichen Gebotes, bei Sorgerechtsentscheidungen den Willen des Kindes zu berücksichtigen, soweit dies mit dessen Wohl vereinbar ist. Sie dient sowohl der Tatsachenaufklärung, zu der das Gericht in den Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit von Amts wegen verpflichtet ist, als auch der Gewährung des rechtlichen Gehörs, auf dessen Einhaltung auch das betroffene Kind einen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch hat (Art. 103 Abs. 1 GG). In der Regel kann daher eine Entscheidung, die den Belangen des Kindes gerecht werden will, nur ergehen, wenn das Kind die Möglichkeit hatte, seine persönlichen Beziehungen zu den übrigen Familienmitgliedern erkennbar werden zu lassen (BVerfG v. 5.11.1980 – 1 BvR 349/80, MDR 1981, 290 = NJW 1981, 217). Lediglich aus schwerwiegenden Gründen, die vorliegend weder vom AG für die Nichtbeachtung der Anhörungspflicht angeführt wurden, noch dem Senat aus dem Akteninhalt erkennbar sind, kann gem. § 50a Abs. 3 FGG von der Anhörung eines Kindes im Sorgerechtsverfahren abgesehen werden.

Beide Kinder hatten auch im Zeitpunkt des Erörterungstermins vor dem AG am 1.8.2003 mit 8 bzw. 9 Jahren ein Alter erreicht, in dem sie normalerweise ihre Neigungen und Beziehungen zu den einzelnen Elternteilen bereits gut artikulieren können. Eine Entscheidung über das Sorgerecht für diese beiden Kinder ohne deren Anhörung ist daher ohne ausreichende tatsächliche Grundlage erfolgt.

Die so gewonnene verfahrensfehlerhafte Entscheidung ist aufzuheben, ohne dass die Verfahrensbeteiligten in dem Beschwerdeverfahren den Verfahrensfehler gerügt oder gar einen Antrag auf Aufhebung und Zurückverweisung gestellt haben müssen. Diese in dem Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit nicht besonders geregelte Verfahrensweise beruht auf allgemeinen prozessualen Grundsätzen und entspricht der bisher ständig geübten Praxis der Gerichte in den Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit bei Vorliegen eines schweren Verfahrensmangels (BGH FamRZ 1982, 12).

Entgegen der von Philippi (Zöller/Philippi, ZPO, 23. Aufl., § 621e Rz. 77) vertretenen Auffassung hat sich hieran durch die Novellierung des § 538 ZPO mit der zum 1.1.2002 in Kraft getretenen Reform der Zivilprozessordnung nichts geändert. Zwar darf nach Abs. 2 S. 1 dieser Vorschrift nach der Neuregelung auch bei wesentlichen Mängeln des erstinstanzlichen Verfahrens nunmehr nur noch dann eine Zurückverweisung erfolgen, wenn eine Partei dies beantragt. Abgesehen davon, dass die Beteiligten in FGG-Verfahren keine Sachanträge und erst recht keine Verfahrensanträge stellen müssen, und in bestimmten Bereichen nicht einmal über den Verfahrensgegenstand durch einen gerichtlich nicht genehmigten Vergleich verfügen dürfen, verweist § 621e III S. 2 ZPO bei der Aufzählung der im Beschwerdeverfahren entspr. anzuwendenden Vorschriften gerade nicht auf § 538 ZPO. Damit ist angesichts der enumerativen Aufzählung i.Ü. auch hinreichend klargestellt, dass eine Gesetzeslücke nicht vorliegt und demzufolge eine analoge Anwendung der verschärften Zurückverweisungsvoraussetzungen nicht zulässig ist (OLG Brandenburg v. 8.11.2002 – 9 UF 157/02, MDR 2003, 271 = FamRZ 2003, 624,; Thomas/Putzo, ZPO, 25. Aufl., § 6...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge