Entscheidungsstichwort (Thema)

Verwirkung des Lösungsrechts nach § 5a VVG a.F. oder § 8 Abs. 5 VVG a.F.

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Widerspruchsrecht nach § 5a VVG a.F. bzw. das Rücktrittsrecht nach § 8 VVG a.F. kann auch im Fall einer nicht ordnungsgemäßen Belehrung in Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB verwirkt sein, sofern besonders gravierende Umstände vorliegen.

2. Die Maßstäbe für eine Berücksichtigung der Gesichtspunkte von Treu und Glauben im Bereich der Ausübung von Lösungsrechten von einem Lebensversicherungsvertrag sind in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geklärt. Die Entscheidung des Gerichtshofs zu den Voraussetzungen einer Einschränkung des Verbraucherwiderrufsrechts bei Kreditverträgen (EuGH, Urteil vom 09.09.2021 - C-33/20, C-155/20 und C-187/20) steht dem nicht entgegen und gebietet auch nicht ein erneutes Vorabentscheidungsersuchen.

 

Normenkette

VVG a.F. §§ 5a, 8

 

Verfahrensgang

LG Karlsruhe (Urteil vom 19.02.2021; Aktenzeichen 21 O 2/20)

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 25.10.2023; Aktenzeichen IV ZR 66/22)

 

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 19.02.2021, Aktenzeichen 21 O 2/20, wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Karlsruhe ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 253.074,17 EUR festgesetzt.

 

Gründe

Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 19.02.2021, Aktenzeichen 21 O 2/20, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.

I. Zur Begründung wird auf den vorausgegangenen Hinweis des Senats vom 20.12.2021 Bezug genommen. Auch die Ausführungen in der Gegenerklärung vom 18.01.2022 geben zu einer Änderung keinen Anlass.

1. Soweit der Kläger der Auffassung ist, eine Verwirkung des Widerspruchs- oder Rücktrittsrechts gemäß § 5a Abs. 1 VVG a.F. bzw. § 8 Abs. 5 VVG a.F. käme aufgrund der Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union überhaupt nicht oder allenfalls dann in Betracht, wenn der Versicherungsnehmer die Voraussetzungen des Lösungsrechts "willkürlich" geschaffen hätte, folgt dem der Senat nicht. Diesbezüglich ist auch keine Vorlage an den Gerichtshof erforderlich.

a) Wie bereits in dem Hinweis des Senats vom 20.12.2021 dargelegt, sind die Maßstäbe für eine Berücksichtigung der Gesichtspunkte von Treu und Glauben im Bereich der Ausübung von Lösungsrechten von einem Versicherungsvertrag in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt. Die Anwendung auf den Einzelfall obliegt danach dem nationalen Gericht (BGH, Urteil vom 16.07.2014 - IV ZR 73/13, juris Rn. 42; hierzu BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 02.02.2015 - 2 BvR 2437/14, juris Rn. 43; vgl. auch BGH, Zurückweisungsbeschluss vom 17.11.2021 - IV ZR 10/21).

b) Hieran ändert auch die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Voraussetzungen einer Einschränkung des Verbraucherwiderrufsrechts bei Kreditverträgen (EuGH, Urteil vom 09.09.2021 - C-33/20, C-155/20 und C-187/20, juris Rn. 121 ff.), auf die der Kläger abstellt, nichts. Diese Rechtsprechung gibt keinen Anlass, von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Bereich der Lösungsrechte von Versicherungsverträgen abzuweichen (a.A. allerdings OLG Rostock, Beschluss vom 09.11.2021 - 4 U 51/21, juris Rn. 6) oder die Sache gemäß § 267 AEUV dem Gerichtshof vorzulegen.

aa) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat im Bereich der Ausübung von Lösungsrechten bei Versicherungsverträgen die Berücksichtigung der Gesichtspunkte von Treu und Glauben im Einzelfall den nationalen Gerichten überlassen (BGH, Urteil vom 16.07.2014 - IV ZR 73/13, Rn. 42) und dabei insbesondere bereits klargestellt, dass derartige Gesichtspunkte Berücksichtigung finden können.

(1) In der Rechtssache "Rust-Hackner" (EuGH, Urteil vom 19.12.2019 - C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18) hat der Gerichtshof etwa dargelegt, dass es unverhältnismäßig wäre, wenn sich der Versicherungsnehmer von den Verpflichtungen aus einem in gutem Glauben geschlossenen Vertrag lösen könnte, wenn ihm durch die Belehrung, auch wenn diese fehlerhaft ist, nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (EuGH, Urteil vom 19.12.2019 - C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, juris Rn. 79). Diese Formulierung zeigt, dass der Gerichtshof auch bei einer fehlerhaften Belehrung über das Widerspruchs- bzw. Rücktrittsrecht die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben bei der Frage für möglich hält, ob die Widerspruchs-...

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