Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch des Auftragnehmers auf Mehrvergütung, wenn ihm der Zuschlag im Vergabeverfahren mit seinem Einverständnis erst nach Ablauf der zunächst bestimmten Zuschlagsfrist erteilt wird

 

Leitsatz (amtlich)

1. Vom Bieter und Auftraggeber im Vergabeverfahren abgegebene Willenserklärungen sind grundsätzlich dahin auszulegen, dass sie in vergaberechtskonformer Weise gemeint sind.

2. Die Anfrage des Auftraggebers nach einer Binde- und Zuschlagsfristverlängerung, die darauf erteilte Zustimmung des Bieters und die Erteilung des Zuschlags durch den Auftraggeber auf das verlängerte Angebot beziehen sich grundsätzlich auf eine Leistung gemäß der unveränderten ursprünglichen Ausschreibung. Dies gilt auch für bereits überholte Ausführungsfristen, es sei denn, dass hinreichend deutlich gemacht wird, dass eine Änderung der zeitlichen Vorgaben gewollt ist.

3. Der Vertrag kommt deshalb in der Regel auch bei einer zeitlichen Überholung zunächst mit den ursprünglich ausgeschriebenen Ausführungsfristen zustande.

4. Es besteht deshalb die Notwendigkeit, den geschlossenen Vertrag, in zeitlicher Hinsicht an die Wirklichkeit anzupassen (Zwei-Stufen-Modell). Diese Anpassung, die der Auftraggeber möglicherweise einseitig gem. § 2 Nr. 5 VOB/B anordnen kann, zu der die Vertragsparteien einander aber jedenfalls wegen des gegenseitigen Kooperationsgebotes verpflichtet sind, braucht der Auftragnehmer nicht ohne Ausgleich seiner auf Grundlage seiner ursprünglichen Kalkulation zu berechnenden Mehrkosten hinzunehmen.

5. Nach diesen Grundsätzen kann dem Auftragnehmer eine Mehrvergütung auch dann zustehen, wenn in der Ausschreibung Ausführungsfristen nicht kalendermäßig bestimmt waren, sondern die Fristen vom Tag des bis zu einem bestimmten Datum vorgesehenen Zuschlags berechnet werden sollten.

 

Normenkette

BGB § 148 ff.; GWB §§ 97 ff.; VOB/A § 8 ff.; VOB/B § 2 Nr. 5

 

Verfahrensgang

LG Essen (Urteil vom 15.11.2007; Aktenzeichen 4 O 168/07)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 10.09.2009; Aktenzeichen VII ZR 152/08)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 15.11.2007 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des LG Essen dahin abgeändert, dass die Klage dem Grunde nach gerechtfertigt ist.

Wegen der Entscheidung über die Höhe des Anspruchs wird das Verfahren unter Aufhebung des Urteils und des ihm zugrunde liegenden Verfahrens - auch zur Entscheidung über die Kosten des Berufungsrechtszuges - an das LG zurückverwiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I. Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird gem. § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen. Unter Berücksichtigung des Weiteren Vorbringens der Parteien stellt sich der Sachverhalt wie folgt dar:

Die Klägerin, die von der Beklagten im Rahmen eines europaweiten Ausschreibungsverfahrens den Zuschlag für den sechsstreifigen Ausbau eines Autobahnabschnittes der BAB # bei N erhalten hat, verlangt von der Beklagten 1.318.029,22 EUR nebst Zinsen, weil sich ihre Kosten wegen eines erst nach Ablauf der ursprünglichen Zuschlagsfrist erteilten Zuschlags erhöht hätten.

Die Klägerin gab einen Tag vor Ablauf der Angebotsfrist am 24.8.2005 ein Angebot über 11.135.966,99 EUR sowie vier Nebenangebote, u.a. zu einer Bauzeitverkürzung, ab. Entsprechend den der Ausschreibung zugrunde liegenden Besonderen Vertragsbedingungen (HVA B-StB) (Anlage K4) sollte die Ausführung der Arbeiten spätestens 12 Werktage nach Zuschlagserteilung beginnen und 445 Werktage nach Zuschlagserteilung vollendet sein.

Als Ende der Zuschlagsfrist war ursprünglich der 30.11.2005 vorgesehen. Mit Schreiben vom 15.11.2005 (K5) wandte sich die Beklagte an alle Bieter und bat um Zustimmung zu einer Verlängerung bis zum 31.3.2006, weil eine fristgerechte Auftragserteilung nicht gewährleistet werden könne. Die Klägerin erklärte am 28.11.2005 (K6) auf dem beiliegenden Vordruck ihr Einverständnis zur "vorgeschlagenen Verlängerung der Zuschlags- und Bindefrist".

Die Beklagte teilte allen Bietern mit Schreiben vom 29.12.2005 (K7) die Absicht mit, der Klägerin den Zuschlag zu erteilen. Daraufhin wurde von einem anderen Bieter am 12.1.2006 ein Nachprüfungsverfahren gem. §§ 102 ff. GWB bei der Vergabekammer beim LG Münster eingeleitet. Der Antrag wurde am 10.2.2006 zurückgenommen. Mit Schreiben vom 13.2.2006 (K8) erteilte die Beklagte der Klägerin den Zuschlag auf ihr Hauptangebot in Verbindung mit den Nebenangeboten 2 und 3. Das Nebenangebot 3 (K10) verhielt sich über eine Bauzeitverkürzung von 32 Werktagen, wobei sich die Einzelfristen aus einem von der Klägerin beigefügten Bauzeitenplan (K36) ergaben. Mit Schreiben vom 17.2.2006 (B3 = K9) bedankte sich die Klägerin für den Zuschlag, meldete jedoch gleichzeitig Mehrkosten wegen der Verschiebung der Ausführungszeit an, die sie im Juli 2006 konkretisierte. Am 29.3.2007 erteilte sie der Beklagten einen Nachtrag Nr. 5 (K16) wegen höherer Kosten für bituminöses Mischgut und die Entsorgung von Fräsgut und einen Nachtrag Nr. 8 wegen Mehrkosten f...

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