Leitsatz (amtlich)

1. Liegt ein Fußgänger betrunken schlafend auf der Straße, schließt dies analog § 827 Satz 2 BGB nicht ohne Weiteres seine Zurechnungsfähigkeit / sein Verschulden aus, wenn sich der Fußgänger selbstverschuldet in einen Zustand versetzt hat, der die freie Willensbildung ausschließt.

2. Grundsätzlich spricht gegen einen Kraftfahrer, der auf ein nicht ungewöhnlich/atypisch schwer erkennbares Hindernis auffährt, der Beweis des ersten Anscheins, dass entweder der Anhalteweg aufgrund der gefahrenen Geschwindigkeit länger als die Sichtweite oder seine Reaktion auf die rechtzeitig erkennbare Gefahr unzureichend war (im Anschluss an BGH Urt. v. 23.6.1987 - VI ZR 188/86, r+s 1987, 312 = juris Rn. 12; siehe auch BGH Urt. v. 23.4.2020 - III ZR 251/17, NJW 2020, 3106 Rn. 33).

3. Zur positiven Feststellung eines alternativen Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO wegen Unaufmerksamkeit oder gegen die Anforderungen des § 3 Abs. 1 Satz 2 und Satz 4 StVO.

 

Normenkette

BGB §§ 254, 827; FeV § 2 Abs. 1 S. 1, § 75 Nr. 1; StVG § 9; StVO § 1 Abs. 2, § 3 Abs. 1, § 25 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Arnsberg (Aktenzeichen 4 O 599/20)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 22.07.2022 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 10.323,31 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.11.2020 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

I. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO abgesehen.

II. Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagten aus übergegangenem Recht ihres Versicherungsnehmers und Geschädigten einen Anspruch auf Ersatz der für ihn aufgrund des Verkehrsunfalls vom 0.0.2016 aufgewendeten Kosten für die vollstationäre Pflege nach einer hälftigen Haftungsquote in Höhe von 10.323,31 EUR aus §§ 7 Abs. 1 StVG, 116 SGB X, hinsichtlich der Beklagten zu 2) in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG; denn dem Beklagten zu 1), der den Geschädigten vor der Kollision gar nicht wahrgenommen hat, ist ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 2, 4 StVO und / oder § 1 Abs. 2 StVO anzulasten. Im Einzelnen:

1. Die Klägerin hat unstreitig als Pflegekasse des Geschädigten i.S.d. § 1 Abs. 3 SGB XI Sozialleistungen nach §§ 43 Abs. 2 Nr. 4, 43 b SGB XI unfallbedingt erbracht. Gem. § 116 Abs. 1, 3 SGB X kann die Klägerin von den Beklagten Ersatz dieser Aufwendungen in dem Umfang verlangen, in dem die Beklagten dem Versicherungsnehmer der Klägerin dem Grunde nach aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall haften.

a) Da sich der Unfall bei Betrieb des von dem Beklagten zu 1) gesteuerten und bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Kraftfahrzeugs ereignete, ist die Haftung nach § 7 StVG (i.V.m. § 115 VVG) unzweifelhaft eröffnet.

Die Ersatzpflicht der Beklagten ist auch nicht nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen, da offenkundig keine höhere Gewalt vorlag.

Ebenso wenig greift ein Anspruchsausschluss nach § 17 Abs. 3 StVG wegen eines unabwendbaren Ereignisses. Gegenüber einem Geschädigten - wie vorliegend dem Versicherungsnehmer der Klägerin -, der selbst nicht als Halter eines Kraftfahrzeugs für die Betriebsgefahr eines unfallbeteiligten Kraftfahrzeugs einzustehen hat, ist die Vorschrift des § 17 StVG bereits nicht anwendbar (vgl. BGH, Urteil vom 17. Januar 2023 - VI ZR 203/22 -, Rn. 40, juris; OLG Celle, Urteil vom 16. November 2022 - 14 U 87/22 -, Rn. 29, juris).

b) Die Beklagten haben nach § 7 Abs. 1 StVG - die Beklagte zu 2) i.V.m. § 115 VVG - für die Unfallfolgen mit einer Quote von 50 % einzustehen, da auch der Versicherungsnehmer der Klägerin und Geschädigte für die Unfallfolgen selbst mit einer Quote von 50 % einzustehen hat.

Gemäß § 9 StVG findet die Vorschrift des § 254 BGB Anwendung, wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt hat. Hierbei folgt die Haftungsabwägung den zu § 17 Abs. 1 StVG entwickelten Rechtsgrundsätzen.

Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge können nur solche Umstände zu Lasten eines Beteiligten berücksichtigt werden, die unstreitig oder bewiesen sind und die sich ursächlich auf die Entstehung des Schadens ausgewirkt haben. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung auf Grund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 24. September 2013 - VI ZR 255/12 -, Rn. 7, juris, m.w.N.; OLG Hamm Beschl. v. 02.01.2018 - 7 U 44/17, NJW-RR 2018, 410, Rn. 36).

aa) Nach diesen Grundsätzen ist ein schuldhafter Verstoß des Versicherungsnehmers der Klägerin und Geschädigten gegen die Sorgfaltspflichten als Fußgänger gem. §§ 2 Abs. 1 S. 1, 75 Nr. 1 FeV, § 25 Abs. 1 StVO...

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