Leitsatz (amtlich)

Die Freistellung eines Polizeibeamten von den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung erfordert die Berücksichtigung aller Umstände, die die Dringlichkeit der Dienstaufgabe im Verhältnis zu den möglichen Gefahren der Verkehrsvorschriften belegen. Die Verletzung der Verkehrsregeln darf auch nicht zu einer unangemessenen, unverhältnismäßigen Beeinträchtigung kollidierender Belange führen, etwa zu einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben anderer Verkehrsteilnehmer. Das muss den getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu entnehmen sein.

 

Verfahrensgang

AG Ibbenbüren (Aktenzeichen 28. 01. 2002)

 

Tenor

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Ibbenbüren zurückverwiesen.

 

Gründe

Das Amtsgericht hat den Betroffenen, der als Polizeibeamter in Nordhorn tätig ist, wegen "fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Gesamtgeschwindigkeit von 60 km/h um 73 km/h gemäß §§ 41 II, 49 StVO i. V. m. 24, 26 a StVG, §§ 1 ff. BKatV" zu einer Geldbuße von 600 Euro verurteilt, gegen ihn ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats festgesetzt und angeordnet, dass das Fahrverbot erst wirksam wird, wenn der Führerschein nach Rechtskraft der Bußgeldentscheidung in amtliche Verwahrung gelangt, spätestens jedoch mit Ablauf von vier Monaten seit Eintritt der Rechtskraft.

Das Amtsgericht hat folgenden Sachverhalt festgestellt:

"Am 23. 05. 01 befuhr der Betroffene gegen 12: 46 Uhr mit dem Pkw BMW mit dem amtlichen Kennzeichen xxxxxxxxxxin Höhe Hörstel die Bundesautobahn 30 in Fahrtrichtung Amsterdam. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit in diesem Bereich betrug 60 km/h.

Durch ordnungsgemäße Radarmessung mit dem Radarstativgerät des Typs VRG MU 6 F der Firma Multanova AG wurde eine von dem Betroffenen gefahrene Geschwindigkeit abzüglich der Toleranz von 133 km/h festgestellt. Der Betroffene hat somit die dort gültige vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit um 73 km/h überschritten. Die Messung erfolgte nach einem "100 km/h-Zeichen", einem "80 km/h-Zeichen" und dem vierten "60 km/h-Zeichen", die beidseitig deutlich sichtbar aufgestellt waren. Zwischen den die Geschwindigkeit begrenzenden Verkehrszeichen befanden sich darüber hinaus beidseitig von der Fahrbahn das Zeichen 112 mit einem zusätzlichen Hinweis auf Straßenschäden. "

Der Betroffene hat die Geschwindigkeitsüberschreitung eingeräumt, sich aber dahin eingelassen, "er sei dienstlich mit seinem Privat-Pkw von Bad Iburg kommend, wo er auf einer Fortbildung gewesen sei, auf der A 30 in Fahrtrichtung Amsterdam unterwegs gewesen, um zu seinem Dienstort Nordhorn zu fahren. Er habe sich auf der linken Spur in einer Kolonne hinter fünf Pkw befunden. Das erste Fahrzeug, das sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung von 60 km/h gehalten habe, habe erfolglos versucht, einen LKW zu überholen. Von hinten sei ein Pkw BMW gekommen, der die Kolonne auf der rechten Fahrspur überholt und plötzlich von der rechten auf die linke Fahrspur gewechselt und sich vor das erste Fahrzeug der Kolonne gesetzt habe. Dieser Pkw habe stark abgebremst, so dass sämtliche Fahrzeuge der Kolonne hätten abbremsen müssen. Da er sich im Dienst befunden habe, habe er versucht, den sich mit rasender Geschwindigkeit entfernenden BMW zu verfolgen. Das Kfz. -Kennzeichen habe er jedoch nicht erkennen können, weil ein Klein-Laster zwischen seinem PKW und dem PKW auf die linke Spur eingeschert sei.

Das Amtsgericht hat zunächst mit zutreffender Begründung dargelegt, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung nicht nach § 127 StPO gerechtfertigt war und hat sodann geprüft, ob der Angeklagte von den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung deswegen befreit war, weil er als Polizeibeamter einen Kraftfahrzeugführer wegen dessen angeblicher Straßenverkehrsgefährdung verfolgt hat, um das Kennzeichen des von diesem gefahrenen Fahrzeug festzustellen. Hierzu hat das Amtsgericht ausgeführt:

"Der Betroffene konnte die Regelung des § 35 StVO, wonach die Polizei zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben von den Vorschriften der StVO befreit ist, nicht für sich in Anspruch nehmen. Gemäß § 35 VIII StVO dürfen die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden. Diesen Anforderungen ist der Betroffene nicht gerecht geworden. Nach Abwägung des Verfolgungsinteresses und der Sicherheit des Straßenverkehrs hätte es dem Betroffenen oblegen auf die von Anfang an nicht erfolgversprechende Verfolgung zu verzichten, da durch die erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung des Betroffenen in einem Bereich, in dem aufgrund ganz erheblicher Straßenschäden eine Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h erfolgt ist, die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer gefährdet worden ist. "

Der Betroffene wendet sich mit seiner Rechtsbeschwerde mit den Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gegen seine Verurteilung.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer...

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