Leitsatz (amtlich)

1. Ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG liegt nicht vor, wenn zum Überholen eine ununterbrochene Mittellinie (§ 41 Abs. 1 StVO in Verbindung mit Verkehrszeichen 295 Anlage 2 StVO) überfahren wird.

2. Eine solche Mittellinie begründet zwar kein Überholverbot im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 2 StVO, wirkt sich aber faktisch als solches aus, wenn die Fahrbahn für ein Überholen innerhalb der Fahrbahnmarkierung und mit dem notwendigen Sicherheitsabstand nicht möglich ist.

3. Auch ein solches faktisches Überholverbot schützt wie ein ausdrückliches gesetzliches Überholverbot den nachfolgenden Verkehr.

4. Das Überholen mehrerer Fahrzeuge in einer Kolonne ist nicht per se verboten.

5. Überholt ein Fahrzeugführer in einer Kolonne mehrere Fahrzeuge, liegt aber dann ein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO vor, wenn sich für ihn nicht verlässlich beurteilen lässt, ob auch ein Vorausfahrender ebenfalls überholen wird - wie hier beim Überholen eines langesamen Baggers auf einer Landstraße nach der Aufhebung einer Geschwindigkeitsbegrenzung.

6. Ein Verstoß des Fahrzeugführers des Spitzenfahrzeugs in einer Kolonne gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO kommt hingegen nicht allein deshalb in Betracht, weil wegen eines langsam vorausfahrenden Fahrzeugs grundsätzlich damit zu rechnen ist, dass auch andere Fahrzeugführer in einer Kolonne einen Überholentschluss fassen könnten.

7. Ein Anscheinsbeweis im Rahmen des § 5 Abs. 4 StVO zu Lasten des Fahrzeugführers eines links zum Überholen ausscherenden Spitzenfahrzeugs in einer Kolonne kommt nicht in Betracht, wenn der zweite Überholer dem Spitzenfahrzeug nicht unmittelbar folgt, sondern zuvor eine kleine Kolonne überholen muss und dann mit dem ausscherenden Spitzenfahrzeug zusammenstößt.

8. An diesen Grundsätzen nach Leitsätzen 4-7 ändert sich nichts dadurch, dass beide Fahrzeugführer gegen ein faktisches Überholverbot verstoßen.

 

Verfahrensgang

LG Essen (Aktenzeichen 11 O 22/18)

 

Tenor

Der Senat weist darauf hin, dass beabsichtigt ist, die Berufung des Klägers durch Beschluss zurückzuweisen, weil sie nach der übereinstimmenden Überzeugung des Senats offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat.

Der Kläger erhält Gelegenheit, innerhalb von drei Wochen ab Zustellung Stellung zu nehmen.

 

Gründe

I. Die Berufung hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Das Landgericht hat die Klage, soweit die Parteien den Rechtsstreit nicht übereinstimmend für erledigt erklärt haben, im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Nach übereinstimmender Auffassung des Senats haften die Beklagten dem Kläger für die Schäden aus dem Verkehrsunfallereignis vom 28.08.2017 gegen 7:50 h auf der A-Straße in B jedenfalls nicht mit einer höheren als der vom Landgericht zugrunde gelegten Quote von 40 %, nach der die Beklagten die Ansprüche des Klägers zwischenzeitlich unstreitig reguliert haben. Der Höhe nach sind und waren die Schäden des Klägers nicht streitig.

Die Einwendungen des Klägers, bezüglich derer zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Berufungsbegründung vom 02.09.2020 (Bl. 265-271 d.A.) Bezug genommen wird, rechtfertigen keine andere Entscheidung.

Im Einzelnen:

1. Die jetzt noch rechtshängige Klage ist unbegründet. Dem Kläger stehen gegen die Beklagten keinerlei Ansprüche aus §§ 7 Abs. 1, 17, 18 StVG, für die Beklagte zu 2 i.V.m. §§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, 1 PflVG (mehr) zu.

Die vom Landgericht angenommene Mithaftungsquote der Beklagten von 40 % ist zugunsten des Klägers jedenfalls nicht zu gering angesetzt.

Nach § 529 Abs. 1 S. 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, welche die Bindung an diese Feststellungen entfallen lassen, können sich aus erstinstanzlichen Verfahrensfehlern ergeben. Ein Verfahrensfehler liegt vor, wenn die Beweiswürdigung nicht den Anforderungen genügt, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn sie unvollständig oder in sich widersprüchlich ist oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen können sich außerdem aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht die Beweisaufnahme anders würdigt als die Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse - nicht notwendig überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (BGH, Urteil vom 11.10.2016 - VIII ZR 300/15, juris Rn. 24; Urteil vom 21.06.2016 - VI ZR 403/14, juris Rn. 11). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall:

a) Zwar liegen die haftungsbegründenden Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 StVG v...

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