Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsätze zur Bemessung von Schmerzensgeldern

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Bemessung von Schmerzensgeld sind - neben allen anderen, insbesondere auch individuellen Gesichtspunkten - die Grundsätze der taggenauen Schmerzensgeldberechnung im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle zu berücksichtigen, gerade um die Belastung durch dauerhafte Beeinträchtigungen abzubilden (Fortführung von OLG Frankfurt am Main 18.10.2018 - 22 U 97/16). Der Senat wendet die Grundsätze allerdings mit modifizierten Prozentsätzen an. In einem weiteren Schritt ist wertend zu prüfen, ob das Schmerzensgeld insgesamt - auch im Hinblick auf bestehende Risiken und zukünftige Entwicklungen - angemessen erscheint.

2. Der Grad der Schädigungsfolgen entsprechend der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung ist für die Beurteilung von Beeinträchtigungen differenzierter und sachgerechter als der bloße Grad der Arbeitsunfähigkeit.

3. Zur Bemessung des Schmerzensgeldes bei einer Unterschenkenfraktur eines 54-Jährigen, die zahlreiche Operationen mit Komplikationen und - nicht durchgängig - mehr als 500 Tage Krankenhausaufenthalt nach sich zieht und schließlich doch zur Amputation des rechten Unterschenkels führt.

 

Normenkette

BGB § 253; StVG §§ 7, 9

 

Verfahrensgang

LG Darmstadt (Urteil vom 17.09.2019; Aktenzeichen 2 O 227/14)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 15.02.2022; Aktenzeichen VI ZR 937/20)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 17.09.2019 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt (Az.: 2 O 227/14) teilweise hinsichtlich des Tenors zu 2. wie folgt abgeändert:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner weiterhin verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.12.2014 zu zahlen, abzüglich gezahlter 37.500,00 EUR, am 21.01.2019 gezahlter 25.000,00 EUR und gezahlter 37.500,00 EUR.

Der Tenor zu Ziffer 5. auf Seite 5 oben des am 17.09.2019 verkündeten Urteils der 2. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt (Az.: 2 O 227/14) wird dahingehend berichtigt, dass es richtigerweise lauten muss:

"sowie aus 1.127,30 EUR seit dem 12.07.2019".

Die Berufung der Beklagten gegen das am 17.09.2019 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt (Az.: 2 O 227/14) wird zurückgewiesen.

Die Beklagten haben die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 175.274,64 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der am XX.XX.1957 geborene Kläger begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall am 05.12.2011, bei dem er erheblich verletzt wurde. Der Kläger war Beifahrer in einem Fahrzeug, das wegen eines Vorunfalls auf der rechten Standspur angehalten hatte. Der Kläger ging zur Unfallstelle, entnahm das Warndreieck aus einem der verunfallten Fahrzeuge und stelle es in einem Abstand von circa 100 Metern auf. Auf dem Rückweg wurde er wenige Meter vor der Unfallstelle von dem Fahrzeug der Beklagten erfasst, als dieses beim Bremsen wegen des Vorunfalls ins Schleudern geriet.

Der Kläger erlitt eine erstgradig offene Unterschenkelfraktur rechts, einen knöchernen Kollateralbandausriss am Wadenbein links, eine minimale intracerebrale Gehirnblutung fronto-parietal rechts sowie eine Ruptur der Fibulatorbänder des oberen Sprunggelenks.

Der Kläger musste sich im Anschluss zahlreichen stationären Behandlungen und Operationen unterziehen. In der Zeit vom 05.12.2011 bis zum 27.02.2015 befand sich der Kläger für mehr als 500 Tage stationär in dreizehn Krankenhausaufenthalten. In den Zwischenzeiten war der Kläger zuhause, allerdings nicht mobil und ans Bett gefesselt. Wegen der Anzahl und der Zeiträume im Einzelnen wird auf die Ausführungen in der Klageschrift vom 03.12.2014, Seite 12, und in der Berufungsbegründung vom 19.12.2019, Seite 5, verwiesen.

Der Kläger wurde mehrfach operiert. Der Heilungsverlauf gestaltete sich sehr komplex. Es wurden mehrere Revisionen und Materialentfernungen (Marknagel, Bolzenschrauben) durchgeführt. Am 14.04.2014 erfolgten u. a. ein knöchernes Débridement, eine Tibia-Rekonstruktion mit kontralateraler freier osteoseptokutaner Fibula sowie eine winkelstabile Plattenosteosynthese.

Im Folgenden werden die einzelnen Behandlungsschritte skizziert:

Bei einer ambulanten Vorstellung in der Klinik1 Stadt1 am 05.01.2012 wurde eine Flüssigkeitseinlagerung zwischen Haut und Faszie bei Decollement im Bereich des Oberschenkels festgestellt. Es wurde eine Verzögerung der knöchernen Heilung am rechten Unterschenkel diagnostiziert.

Am 09.01.2012 erfolgte in der Klinik1 Stadt1 eine Revision des Oberschenkels rechts mit Nekrosektomi...

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