Leitsatz (amtlich)

1. Der Irrtum eines potentiellen Erben über die Zugehörigkeit eines Gegenstandes bzw. einer Forderung zum Nachlass (hier: Schmerzensgeldansprüche der Erblasserin aufgrund ihrer im Zusammenhang mit dem Absturz eines Flugzeugs der German Wings auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf erlittenen Todesangst) kann zur Anfechtung der Erbausschlagung berechtigen, wenn sich der Irrtum auf wertbildende Faktoren besonderen Gewichts bezieht, denen im Verhältnis zur gesamten Erbschaft eine erhebliche und für den Wert des Nachlasses wesentliche Bedeutung (hier bejaht für 25.000 Euro Schmerzensgeld bei einem im Erbscheinsantrag angegebenen Nachlasswert von 35.000 Euro) zukommt.

2. Dem weiteren Erfordernis der Ursächlichkeit des Irrtums für die Erbausschlagung genügt der Erbe, indem er dartut, dass er bei Kenntnis der Sachlage und verständiger Würdigung des Falles die Ausschlagung nicht erklärt hätte (hier zunächst erklärte Ausschlagung mit Blick auf sich andeutende psychisch belastende Konflikte über die Erbauseinandersetzung, sodann - nach Kenntnis der Zugehörigkeit des Schmerzensgeldanspruchs zum Nachlass - Anfechtung der Ausschlagungserklärung und Geltendmachung (u.a.) dieses (übergegangenen) Anspruchs zur Verarbeitung des traumatischen Verlustes der Verwandten und als symbolische Wiedergutmachung zur Trauerbewältigung).

 

Normenkette

BGB § 119 Abs. 1-2, §§ 253, 1954 Abs. 1

 

Verfahrensgang

AG Dinslaken (Beschluss vom 02.11.2015; Aktenzeichen 14 VI 356/16)

 

Tenor

Der Beschluss des AG Dinslaken vom 2.11.2015 - Az. 14 VI 355/15 - wird geändert.

Das Nachlassgericht wird angewiesen, der Beteiligten zu 1 den beantragten Erbschein zu erteilen.

Beschwerdewert: 60.000,00 EUR

 

Gründe

I. Die Erblasserin und ihr Vater K. G. H. kamen beim Absturz des Flugzeugs der German Wings GmbH auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf in Prads-Haut-Bléone (Alpes-de-Haute-Provence) ums Leben. Die Erblasserin war unverheiratet und kinderlos. Ihre Mutter ist vorverstorben. Die Mutter hat zwei Geschwister, den Beteiligten zu 2 und S. R.. Die Beteiligte zu 1 ist die Schwester des Vaters der Erblasserin. Daneben gibt es drei weitere Geschwister des Vaters: M. W. H., R. B. H. und M. W. H.. Zwei Schwestern des Vaters der Erblasserin, G. H. H. und U. M. H., sind ebenfalls vorverstorben.

Mit notariell beurkundeter Erklärung vom 28.4.2015 schlugen die Beteiligte zu 1, M. W. H. und dessen Sohn, C. H., das Erbe aus, wobei sie den auf sie entfallenen Nachlasswert mit 20.000,00 EUR angaben.

Am 11.6.2015 meldete sich die Beteiligte zu 1 telefonisch beim Nachlassgericht und teilte mit, sie bereue die Ausschlagung und wolle sie rückgängig machen. Mit Schriftsatz vom gleichen Tage erklärte sie die Anfechtung der Erbschaftsausschlagung vom 28.4.2015. Zur Begründung gab sie an, sie habe sich über verkehrswesentliche Eigenschaften des Nachlasses geirrt. Aufgrund des Flugzeugabsturzes stünden der Erblasserin Schadensersatzansprüche gegen die Germanwings GmbH/Deutsche Lufthansa AG in noch nicht bezifferbarer Höhe zu, die auf dessen Erben übergingen. Zum Zeitpunkt der Erbausschlagung sei sie aufgrund einer Auskunft des beurkundenden Notars davon ausgegangen, dass nur die Hinterbliebenen der Absturzopfer Schadensersatzansprüche gegenüber der Germanwings GmbH/Deutsche Lufthansa AG hätten, während der Erblasserin Ansprüche (insbesondere auf Schmerzensgeld) nicht zustünden. Tatsächlich stellten diese Ansprüche der Erblasserin einen bedeutenden Posten dar, der den Wert des Nachlasses ganz erheblich erhöhe, zumal französische Gerichte bekanntlich deutlich höhere Schmerzensgelder zusprächen als deutsche Gerichte. Sie habe sich damit über die konkrete Zusammensetzung des Nachlasses, nämlich über die Zugehörigkeit bestimmter Rechte zum Nachlass als verkehrswesentliche Eigenschaft, geirrt. Dementsprechend hätten diese Rechte auch in dem der Erbschaftsausschlagung zugrunde gelegten Nachlasswert keine Berücksichtigung gefunden. In Kenntnis der Ansprüche der Erblasserin hätte sie die Erbschaft nicht ausgeschlagen.

Am 1.7.2015 wiederholte die Beteiligte zu 1 die Anfechtung in notariell beurkundeter Form.

Mit notariell beurkundeter Erklärung vom 3.7.2015 haben die Beteiligten Erteilung eines Erbscheins beantragt, der den Beteiligten zu 2 und S. R. zu je ¼-Anteil und die Beteiligte zu 1, R. B. H. und M. W. H. zu je 1/6-Anteil als Erben ausweist. Die Beteiligte zu 1 hat geltend gemacht, der Erblasserin stünden aufgrund der erlittenen Todesangst eigene Ansprüche gegen die Germanwings GmbH/Deutsche Lufthansa AG zu. Davon habe sie erst am 26.5.2015 anlässlich eines Beratungsgesprächs in den Kanzleiräumen ihres Verfahrensbevollmächtigten erfahren.

Mit Beschluss vom 2.11.2015 hat das Nachlassgericht den Erbscheinsantrag der Beteiligten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es liege kein Anfechtungsgrund gem. § 119 Abs. 2 BGB vor. Zwar könnten Fehlvorstellungen über die Zusammensetzung des Nachlasses einen Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaften des ...

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