Entscheidungsstichwort (Thema)

Anscheinsbeweis für ein Verschulden gem. § 10 StVO

 

Leitsatz (amtlich)

Das Vorrecht gem. § 20 Abs. 5 StVO besteht nur unter den Voraussetzungen einer rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Anzeige gegenüber dem ansonsten fortbestehenden Vorrang des fließenden Verkehrs.

Die Beweislast für die Inanspruchnahme eines Vorrechts der Straßenverkehrsordnung trägt derjenige, der sich auf es beruft. Erst wenn der Fahrer eines an einer Haltestelle haltenden Linienbusses bewiesen hat, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme seines Vorrechts vorgelegen haben, entfällt der Vorrang des fließenden Verkehrs und mit ihm der Anscheinsbeweis, der auf einen Verstoß gegen die in § 10 StVO normierten Sorgfaltsanforderungen schließen lässt (entgegen KG Berlin in den Entscheidungen vom 24. Juli 2008 - 12 U 142/07 - und vom 1.11.2018 - 22 U 128/17, juris; sowie LG Saarbrücken, Urteil vom 05. April 2012 - 13 S 209/11, Rn. 13, juris).

 

Normenkette

StVO §§ 10, 20 Abs. 5

 

Verfahrensgang

LG Verden (Aller) (Urteil vom 12.05.2021; Aktenzeichen 1 O 13/20)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 12. Mai 2021 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Verden - 1 O 13/20 - teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 4.448,88 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.02.2020 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits der ersten Instanz tragen der Kläger zu 41%, die Beklagte zu 59%. Die Kosten des Rechtsstreits der zweiten Instanz tragen der Kläger zu 39%, die Beklagte zu 61%.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Beide Parteien dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 6.982,80 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Kläger verlangt von der Beklagten Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls vom 8.11.2019. Der Kläger befuhr mit seinem Fahrzeug VW Tiguan die G. Straße in V. Der Zeuge R. hielt mit dem von ihm gefahrenen Fahrzeug der Beklagten, einem Linienbus Mercedes Citaro, am rechten Fahrbahnrand an der dortigen Haltestelle mit rechtsseitigem eingeschalteten Fahrtrichtungsanzeiger. Als der Kläger mit seinem Fahrzeug an dem Bus linksseitig vorbeifahren wollte, fuhr der Zeuge R. schräg nach links in die G. Straße ein. Der Zeuge beabsichtigte, von der G. Straße nach links in die Straße P. abzubiegen. Noch beim Anfahren des Linienbusses kam es zu einer Kollision zwischen beiden Fahrzeugen.

Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Zeuge R. vor dem Anfahren den linksseitigen Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hat, um sein Einfahren auf die Fahrbahn anzuzeigen.

Dem Kläger ist durch den Unfall ein unstreitiger Schaden in Höhe von 10.016,20 EUR entstanden (Reparaturkosten: 8.094,30 EUR, Wertminderung: 350,00 EUR, Sachverständigenkosten: 1.015,90 EUR, Kostenpauschale: 25,00 EUR, Nutzungsentschädigung: 531,00 EUR (9 Tage à 59,00 EUR)). Von diesem Schaden hat die Beklagte bereits einen Betrag in Höhe von 2.767,90 EUR gezahlt, was abzüglich eines Aufrechnungsbetrages für eigene Schäden in Höhe von 50% (1.974,70 EUR) einer hälftigen Regulierung entspricht.

Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen im Übrigen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Das Landgericht hat nach einer Beweisaufnahme mit Zeugenvernehmung und der Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Unfallhergang eine hälftige Schadensteilung zwischen den Parteien ausgeurteilt. Da nicht feststehe, ob der Zeuge R. geblinkt habe oder nicht, habe keine Partei beweisen können, dass der Unfall für sie unabwendbar gewesen sei. Der Sachverständige habe in seinem Gutachten ausgeführt, dass für den Zeugen R. der Unfall vermeidbar gewesen wäre, wenn er den Kläger mit seinem Fahrzeug hätte passieren lassen. Für den Kläger wäre der Unfall vermeidbar gewesen, wenn der Zeuge R. vor Anfahrbeginn den linken Fahrtrichtungsanzeiger erkennbar gesetzt hätte. Der Kläger hätte in diesem Fall sein Fahrzeug noch vor Erreichen des Kollisionsortes zum Stillstand bringen können.

In Bezug auf das gegenseitig zu beweisende Verschulden habe keine Partei der anderen einen Verkehrsverstoß beweisen können. Das Gericht habe keine Gewissheit erlangen können, ob der Blinker gesetzt worden sei oder nicht. Daher habe weder ein Verstoß des Klägers gegen § 20 Abs. 5 StVO noch ein Verstoß des Zeugen R. gegen § 10 StVO angenommen werden können. Von dem Anspruch des Klägers in Höhe von 50%, 5.008,10 EUR, habe das Landgericht die bereits gezahlten 2.767,90 EUR und einen Aufrechnungsbetrag der Beklagten in Höhe von 50 % (1.974,70 EUR) für eigene Schäden ab...

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