Entscheidungsstichwort (Thema)

Unklare Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bei einer größeren Kolonne von Fahrzeugen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wer ordnungsgemäß zum Überholen einer Kolonne angesetzt hat, hat gegenüber ausscherenden Fahrzeugen aus der Kolonne Vorrang, auch wenn im weiteren Verlauf die Absicht, links abzubiegen, erkennbar wird.

2. Das Überholen einer großen Kolonne von 9-10 Fahrzeugen, ohne dass eine unklare Verkehrslage vorliegt, ist grundsätzlich erlaubt und führt nicht zu einem Mitverschulden. Ggf. kommt jedoch eine erhöhte Betriebsgefahr zum Ansatz.

3. Verletzt der aus einer Kolonne Abbiegende seine Pflichten aus § 9 Abs. 1 StVO und kommt es deshalb zu einem Zusammenstoß mit einem die Kolonne ordnungsgemäß Überholenden, trifft den Abbiegenden die überwiegende Haftung (vorliegend 75 Prozent).

 

Normenkette

StVG § 17; StVO §§ 5, 9 Abs. 1, § 9

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 09. Juli 2021 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Verden - 8 O 340/17 - teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 14.597,78 EUR sowie 20.000,00 EUR Schmerzensgeld zu zahlen jeweils zzgl. Zinsen in Höhe von 5%-Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.01.2018.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, über das Teilurteil des Landgerichts Verden vom 12.04.2018, Az. 8 O 340/17 hinaus, dem Kläger 75 Prozent des weiteren materiellen und immateriellen Schadens zu ersetzen, der ihm aus dem Verkehrsunfall auf der Bundesstraße ... zwischen M. und R. am 25.04.2014 noch entstehen wird, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 70 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 30 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, sofern nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 125.000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Kläger nimmt die Beklagten als Gesamtschuldner auf Schadensersatz und Schmerzensgeld zuzüglich Rechtsanwaltskosten und Zinsen aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 25.05.2014 auf der Bundesstraße ... zwischen M. und R. ereignete. Er begehrt ferner die Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige Schäden.

Der Kläger überholte mit seinem Kraftrad eine Fahrzeugkolonne von 9-10 Fahrzeugen, an deren Spitze ein Lkw fuhr. Dabei kam es zu einem Zusammenstoß mit dem links abbiegenden Pkw des Rechtsvorgängers der Beklagten zu 1), der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert war. Der Kläger erlitt erhebliche Verletzungen und dauerhafte Gesundheitsschäden, unter anderem eine Lähmung des linken Armes. Die unstreitigen Unfallfolgen wurden insbesondere durch umfangreiche Begutachtungen durch das BG-Klinikum H. festgestellt. Auf die beiden Gutachten vom 06.12.2016 sowie vom 16.01.2017 (Anlagen B1 bis B3, Bl. 84 ff. d. A.) wird Bezug genommen. Die Beklagte zu 2) regulierte außergerichtliche Forderungen des Klägers auf Grundlage einer Haftungsquote von 50 %.

Mit Teilanerkenntnisurteil vom 12.04.2018 hat das Landgericht die Ersatzpflicht der Beklagten für zukünftige Schäden mit einer Haftungsquote von 50 % festgestellt. Mit Schlussurteil vom 09.07.2021 hat das Landgericht die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 6.840,00 EUR verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass dem Kläger Ansprüche nach einer Haftungsquote von 50 % zustünden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe die Kolonne von 60-70 km/h auf 20-30 km/h aufgrund des Abbiegemanövers abgebremst. Der Rechtsvorgänger der Beklagten zu 1) habe nach den Bekundungen der Zeugen ordnungsgemäß geblinkt, was der Kläger nicht widerlegt habe (Seite 11 LGU). Die gefahrenen Geschwindigkeiten und der Unfallverlauf ergäben sich auch aus den sorgfältigen, nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Feststellungen des Sachverständigen B. (Seite 12 ff. LGU). Der Kläger habe sich nicht wie ein Idealfahrer verhalten, indem er die in geringem Abstand fahrende Fahrzeugkolonne, also bei wenig Ausweichmöglichkeiten, überholt habe, was ein erheblich risikobehafteter Verkehrsvorgang gewesen sei. In dieser Risikosituation habe er zudem nicht mit der notwendigen Sorgfalt und Aufmerksamkeit reagiert. Weder den gesetzten Blinker noch die Bremslichter der nachfahrenden Fahrzeuge habe er zum Anlass genommen, ausreichend stark zu bremsen (Seite 18 LGU). Der Rechtsvorgänger der Beklagten zu 1) habe gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO verstoßen, weil er die gehörige Rückschau nicht g...

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