Verfahrensgang

AG Rotenburg (Wümme) (Aktenzeichen 16 F 255/20)

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde des Landkreises Rotenburg wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Rotenburg (Wümme) vom 14. Oktober 2020 teilweise (in Ziffer 1.) geändert und wie folgt gefasst: Den Kindeseltern wird das Recht zur Regelung schulischer Angelegenheiten für ihre gemeinsamen Kinder ... und ..., sowie das auf den Besuch der Schule bezogene Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen. Das Jugendamt des Landkreises Rotenburg wird insoweit zum Ergänzungspfleger bestellt. Der Ergänzungspfleger wird ermächtigt, soweit erforderlich die Herausgabe der Kinder notfalls unter Einsatz von Gewalt und mittels Betreten und Durchsuchen der elterlichen Wohnung sowie unter Inanspruchnahme der Hilfe des Gerichtsvollziehers oder der Polizei zu erzwingen.

II. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden den Kindeseltern auferlegt.

III. Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Kindeseltern haben neben den beiden Söhnen ... fünf weitere Kinder .... Sie gehören der ...gemeinde in Rotenburg an, in der der Kindesvater die Funktion ... ausübt, die nach seinen Angaben derjenigen ... entspricht.

Obwohl die beiden Kinder ... seit August 2019 schulpflichtig sind, sorgen die Eltern nicht für einen Schulbesuch in einer staatlich angerkannten Schule. Sie sehen sich im Gegenteil aufgrund ihres Glaubens gehalten, bei der Kindererziehung den Maßstäben und Vorgaben der Bibel zu folgen und ihre Kinder von Einflüssen fernzuhalten, die den Geboten Gottes zuwiderlaufen. Die Mutter beschult die Kinder nach dem Konzept der "Freien Christlichen Philadelphia-Schule Siegen" selbst. Den unter dem 14. Mai 2019 durch die Eltern gestellten Antrag auf Befreiung ihrer Söhne von der Schulpflicht hat die Niedersächsische Landesschulbehörde mit Bescheid vom 10. Juli 2019 abgelehnt. Gegen diesen Bescheid haben die Eltern Klage beim Verwaltungsgericht Stade erhoben (4 A 1087/19). Eine Entscheidung steht in diesem Verfahren noch aus und wird wegen der dortigen derzeit zu erwartenden regelmäßigen Verfahrensdauer von 3-4 Jahren nicht zeitnah erwartet.

Gegen den Kindesvater hat das Schulverwaltungsamt des Landkreises Rotenburg seither mehr als 20 Bußgeldbescheide erlassen. Auf die Einsprüche des Vaters hat das Amtsgericht Rotenburg ihn mit den seit dem 7. April 2021 rechtskräftigen Urteilen vom 22. März 2021 in 15 Verfahren zur Zahlung von Bußgelder wegen Verstößen gegen die Schulpflicht in Höhe von insgesamt 1.740 EUR verurteilt (7a OWi 233 Js 21412/20, 7a OWi 233 Js 21184/20; 7a OWi Js 21414/20; 7a OWi Js 21415/20, 7a OWi Js 11464/20, 7a OWi 233 Js 9836/20, 7a OW 233 JSs 9846/20, 7a OWi 233 Js 9847/20, 7a OWi 233 Js 9845/20, 7a OWi 233 Js 9842/20, 7a OWi 233 JS 9840/20, 7a OWi 233 Js 9840/20, 7a OWi Js 9839/20, 7a OWi 233 Js 9809/20, 7a OWi 233 Js 9801/20, 7a OWi 233 Js 9844/20, 7a OWi 233 Js 9843/20 und 7a OWi 223 Js 9825/20).

Im vorliegenden Verfahren hat das Jugendamt des Landkreises Rotenburg unter dem 18. Juni 2020 beim Amtsgericht gemäß § 8a SGB VIII angeregt, wegen einer Kindeswohlgefährdung eine Anhörung durchzuführen. Das Amtsgericht hat Rechtsanwältin ... zur Verfahrensbeiständin für die Kinder bestellt und die Kinder am 25. August 2020 in ihrer Anwesenheit persönlich angehört. Am 1. Oktober 2020 hat es die Beteiligten angehört.

Mit Beschluss vom 14. Oktober 2020 hat das Amtsgericht davon abgesehen, familiengerichtliche Maßnahmen zu ergreifen, und hierzu unter Bezugnahme auf die aktuelle Rechtsprechung im Wesentlichen darauf abgestellt, dass bei den Kindern keine Defizite beim Wissensstand oder im Bereich der sozialen Kompetenzen erkennbar geworden seien. Weder zukünftig entstehende Wissenslücken noch die Gefahr eines in der Familie und kirchlichen Gemeinde isolierten Aufwachsens rechtfertigten sorgerechtliche Maßnahmen, die darüber hinaus nicht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit durchgesetzt werden könnten.

Mit der hiergegen erhobenen Beschwerde macht der Landkreis Rotenburg geltend, dass das Wohl der Kinder konkret dadurch gefährdet wird, dass sie im Familien- und Gemeindeverband isoliert werden. Es handele sich um eine das Kindeswohl gefährdende Parallelwelt. Auch genüge die durch die Mutter, die fünf weitere Geschwister von ... betreut, erfolgende Beschulung nach dem Konzept der "Freien Christlichen Philadelphia - Schule Siegen" den Anforderungen nicht. Die Mutter sei nicht ausgebildet und schon deshalb nicht in der Lage, den Kindern Wissen ausreichend zu vermitteln. Im Verstoß gegen die Schulpflicht liege eine konkrete Kindeswohlgefährdung, weil die Eltern ihren Kindern das Erwerben sozialer Kompetenzen nicht ermöglichen, zumal die Kinder auch keine Freizeitaktivität außerhalb der Gemeinde besuchten.

Die Kindeseltern sind der Beschwerde entgegengetreten. Die Beschwerde sei nicht zulässig erhoben worden, weil sie durch das Rechtsamt statt das Jugendamt des Landkreises Rotenburg eingelegt worden sei. Sie hätten beim Regionalen Landes...

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