Partieller Sorgerechtsentzug bei Verletzung der Schulpflicht

Verweigern die Eltern wegen coronabedingter Ängste den Schulbesuch ihres 7-jährigen Sohnes, so kann ihnen das Sorgerecht betreffend die schulischen Angelegenheiten entzogen werden, auch wenn sie selbst das Kind unterrichten.

Das OLG Karlsruhe hat den Eltern eines im September 2021 eingeschulten 7-jährigen Schülers, der während des gesamten 1. Schuljahres an keinem Tag die Schule besuchte, das Sorgerecht hinsichtlich der schulischen Angelegenheiten ihres Sohnes entzogen.

Angst vor Zwangsimpfung in der Schule

Die Eltern erklärten die fehlende Anwesenheit ihres Sohnes in der Schule mit den im Rahmen der Corona-Schutzmaßnahmen verfügten Test- und Maskenpflichten. Diese beinhalten nach ihrer Auffassung die Gefahr einer Krebserkrankung ihres Kindes sowie die Gefahr von Erstickungsanfällen. Sie befürchteten außerdem eine zwangsweise Impfung ihres Sohnes gegen ihren elterlichen Willen und gegen den Willen des Kindes. Angeblich mit Zustimmung ihres Kindes besuchte dieses die Schule während der gesamten 1. Klasse nicht. Die Eltern unterrichteten nach ihrer Darstellung ihren Sohn zu Hause in einer Weise, die qualitativ dem Unterricht an einer Schule entsprach.

Bessere Entfaltungsmöglichkeiten beim „Homeschooling“?

Die Schule schaltete das Jugendamt ein. Dieses leitete ein Verfahren zur Ergreifung gerichtlicher Maßnahmen wegen Kindeswohlgefährdung gemäß § 1666 BGB ein. Die Versuche des vom Gericht eingesetzten Verfahrensbeistandes zur Vermittlung zwischen Jugendamt und Eltern scheiterten. Die Eltern vertraten den Standpunkt, ihr Sohn könne sich beim „Freilernen im Homeschooling“ in einer Weise „toll“ entfalten wie dies im normalen Schulunterricht niemals möglich sei. Der Sohn habe daher selbst den unbedingten Wunsch auf Fortführung des „Homeschoolings“ unter Leitung der Eltern. Der hervorragende Bildungsstand des Sohnes könne jederzeit überprüft werden.

Eltern bestanden auf Befreiung von der Schulpflicht

Das erstinstanzlich zuständige Familiengericht erteilte den Eltern gemäß § 1666 Abs. 3 Nr.2 BGB die Weisung, im Rahmen ihrer erzieherischen Möglichkeiten für eine regelmäßige Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen. Nicht zuletzt unter Hinweis auf die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch geltende, gesundheitsschädliche Maskenpflicht, waren die Eltern mit der Entscheidung nicht einverstanden und legten Beschwerde beim OLG ein.

Beschwerde der Eltern führte zur Maßnahmenverschärfung

Das OLG ging im Rahmen des Beschwerdeverfahrens über die Entscheidung der Vorinstanz deutlich hinaus. Nach Auffassung des OLG bestand die akute Gefahr einer Kindeswohlgefährdung durch eine weitere Verletzung der Schulpflicht. Der Senat verfügte gegenüber den Eltern im Wege einer einstweiligen Anordnung

  • den sofortigen Entzug des Sorge- sowie des Aufenthaltsbestimmungsrechts betreffend die schulischen Angelegenheiten des Kindes.
  • Die Regelung der schulischen Angelegenheiten übertrug das OLG auf das zuständige Jugendamt als Ergänzungspfleger
  • und verpflichtete die Eltern zur Herausgabe des Kindes an den Schultagen.

Vollstreckungsanordnungen des OLG

Der Senat stellte darüber hinaus klar, dass zur Vollstreckung der Herausgabepflicht unmittelbarer Zwang ausgeübt werden darf und

  • ermächtigte den Gerichtsvollzieher zur gewaltsamen Öffnung der Wohnung der Eltern sowie
  • zur Wohnungsdurchsuchung zum Zwecke des Auffindens des Kindes.
  • Außerdem erteilte es dem Gerichtsvollzieher die Befugnis, zur Unterstützung eventuell erforderlicher Zwangshandlungen um Unterstützung durch polizeiliche Vollzugsorgane nachzusuchen.
  • Den Eltern drohte der Senat für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die Herausgabepflicht ein Ordnungsgeld in Höhe von jeweils bis zu 25.000 Euro ersatzweise Ordnungshaft an.

Verhalten der Eltern gefährdet Kindeswohl

Das OLG begründete seine weitreichende Entscheidung mit dringenden Erfordernissen des Kindeswohls. Die Eltern gefährden nach Auffassung des Senats durch ihr Verhalten sowohl die Entwicklung des Kindes zu einer der verantwortlichen Persönlichkeit als auch dessen gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft.

Staatlicher Erziehungsauftrag dient dem Gemeinwohlinteresse

Die Darlegungen der Eltern zum hohen Bildungsstand ihres Sohnes hielt der Senat für unerheblich. Entgegen der Auffassung der Eltern ziele die allgemeine Schulpflicht nämlich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und solchen sozialen Fertigkeiten, die möglicherweise auch im familiären Umfeld erlernbar seien. Die Schulpflicht diene darüber hinaus dem staatlichen Erziehungsauftrag und den damit einhergehenden Interessen des Gemeinwohls. Nur im Umfeld einer adäquaten schulischen Gemeinschaft könne ein Schüler sich und seine Fähigkeiten an den Mitschülern messen, auf diese Weise eine eigenverantwortliche Persönlichkeit entwickeln und an den Angeboten einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft teilhaben.

Angst vor Corona nur vorgeschoben?

Der Senat zweifelte auch daran, dass die von den Eltern ins Feld geführten Coronamaßnahmen der tatsächliche Grund für den fehlenden Schulbesuch seien. Das Gericht sah vielmehr Anlass zu der Vermutung, dass die Eltern ihre eigene Einschätzung an die Stelle der gesetzgeberischen Entscheidung über die Bedeutung der Schulpflicht setzen und eine Erziehung des Kindes ausschließlich nach ihren eigenen Vorstellungen unter Ausschöpfung aller ihnen zur Verfügung stehenden Mittel durchsetzen wollten. Aus diesem Grunde seien die verfügten Zwangsmittel zur Durchsetzung der Rechte des Kindes auch erforderlich, angemessen und verhältnismäßig.

Mangelnder Schulwille des Sohnes ist unbeachtlich

Der von den Eltern ebenfalls ins Feld geführte Wille des Sohnes, zu Hause geschult zu werden, spielt nach der Entscheidung des Senats keine Rolle. Die Frage der Beschulung und die damit verbundene weiterreichende Weichenstellung für die kindliche Entwicklung könne ein Kind in diesem Alter nicht annähernd überschauen. Deshalb könne die Frage der Beschulung nicht von dem Willen eines 7-jährigen abhängig gemacht werden.

Die Entscheidung über die teilweise Entziehung des Sorgerechts ist unanfechtbar.

(OLG Karlsruhe, Beschluss v. 25.8.2022, 5 UHF 3/22)

Hintergrund:

Die Entscheidung des OLG entspricht der bisherigen Tendenz der Rechtsprechung zur Schulpflicht in Pandemiezeiten.

Auch renitenter 15-jähriger muss zum Schulbesuch angehalten werden

Das VG Düsseldorf hat die Androhung eines Zwangsgeldes durch die Bezirksregierung gegenüber der Mutter eines Schülers wegen der Verweigerung der Teilnahme am Präsenzunterricht für rechtmäßig befunden. Das VG bewertete die Pflicht eines 15-jährigen Düsseldorfer Gymnasiasten zum Schulbesuch gemäß § 34 SchulG NRW gewichtiger als die hiermit möglicherweise verbundenen Beschränkungen des durch Art. 6 GG geschützten Elternrechts (VG Düsseldorf, Beschluss v. 5.8.2022, 18 L 621/22).

Elternpflicht zur erzieherischen Umsetzung der Schulpflicht

Auch das OVG NRW hat im März dieses Jahres die Androhung von Zwangsgeld gegen eine Mutter, deren 10-jähriger Sohn den Schulbesuch verweigerte, für rechtmäßig erklärt. Nach Auffassung des OVG muss ein Sorgerechtsinhaber sämtliche ihm zur Verfügung stehenden erzieherischen Mittel einsetzen, um ein 10-jähriges Kind - gegebenenfalls auch gegen dessen Willen - zu einem regelmäßigen Schulbesuch anzuhalten. Ausnahmen von der Schulpflicht seien nur aus schwerwiegenden Gründen zulässig, zu denen die z.B. Angst vor Testungen infolge der Corona-Pandemie oder Probleme mit der Maskenpflicht nicht gehörten, § 43 SchulG NRW (OVG Münster, Beschluss v. 4.3.2022, 19 B 1917/21). Bestehe für einen Schüler eine konkrete individuelle gesundheitliche Gefährdung so könne dies medizinisch abgeklärt und ggflls. eine Ausnahme zugelassen werden (OVG NRW, Beschluss v. 29.11.2021, 19 B 1492/21; OVG Niedersachsen, Beschluss v. 10.9.2020, 6 B 4530/20).

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