Entscheidungsstichwort (Thema)

Entschädigung für ein vom Pilotverfahren abhängiges Ausgangsverfahren - Zur Entschädigung des Entschädigungsklägers, der zugleich Partei des Pilotverfahrens ist

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die durch entschädigungspflichtige Verzögerung in einem Pilotverfahren verursachten Nachteile manifestieren sich für den personenidentischen Kläger, der auch Partei im Pilotverfahren ist, ausschließlich in dem Pilotverfahren, wobei die Anzahl der hiervon abhängigen Verfahren bei der Bemessung der billigen Entschädigung in dem das Pilotverfahren betreffenden Entschädigungsverfahren zu berücksichtigen ist.

2. Etwaige Verzögerungen, die bei der Bearbeitung des Pilotverfahrens verursacht werden, zeitigen nur "passive" Auswirkungen auf die jeweils abhängigen Verfahren, die zur Zeit der Bearbeitung des Pilotverfahrens faktisch ruhen. Wenn für den personenidentischen Entschädigungskläger, der zugleich Partei im Pilotverfahren ist, in den jeweils abhängigen Verfahren ausschließlich "passive" Auswirkungen der Verzögerung der Pilotverfahren zum Tragen kommen, so sind diese deshalb objektiv allein dem zugehörigen Pilotverfahren zurechenbar. In dem Entschädigungsprozess des vom Pilotverfahren abhängigen Verfahrens ist in einem solchen Falle deshalb insoweit die Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG widerlegt.

3. Nur dann, wenn durch die (Nicht-) Bearbeitung des abhängigen Verfahrens selbst weitere Verzögerungen eintreten, kommt auch im Entschädigungsprozess des abhängigen Verfahrens die Entstehung eines weitergehenden immateriellen Nachteils in Betracht (Senat, Urteil vom 5. November 2021 - 4 EK 23/20 -, Rn. 499, juris).

 

Normenkette

GVG § 198 Abs. 2 S. 1

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 09.03.2023; Aktenzeichen III ZR 80/22)

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird zugelassen.

5. Der Streitwert wird auf eine Wertstufe bis 80.000 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Der Kläger nimmt das beklagte Land Niedersachsen auf Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer betreffend neun vor dem Landgericht Göttingen geführter Verfahren in Anspruch.

Bei dem Landgericht Göttingen waren seit dem Jahr 2006 insgesamt mehr als 4.000 Kapitalanlage-Verfahren im Zusammenhang mit dem Unternehmensverbund "G. Gruppe" anhängig, die zunächst allein von der 2. Zivilkammer bearbeitet wurden.

Im Laufe des Jahres 2011 übertrug das Präsidium des Landgerichts Göttingen die Hälfte der anhängigen Verfahren aus diesem Komplex auf die 14. Zivilkammer. In den Folgejahren wechselten die personelle Besetzung beider Kammern sowie die ihnen zugewiesenen Arbeitskraftanteile.

Beide Kammern bestimmten aus zwei "Serien" - der "Hauptserie" mit insgesamt über 4.000 Verfahren einerseits und der "L.-Serie" mit insgesamt ca. 280 Verfahren andererseits - jeweils ein Muster- bzw. Pilot-Verfahren, die vorrangig - unter Durchführung von Beweisaufnahmen - gefördert werden sollten. Die hiervon abhängigen weiteren Verfahren wurden ausschließlich zum Zwecke der gemeinsamen Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens zu den jeweiligen Kammer-Pilotverfahren der 2. und 14. Zivilkammer kammerintern miteinander verbunden. Die 2. und die 14. Zivilkammer gingen hierbei abgestimmt einheitlich in der Weise vor, dass für die jeweiligen Pilotverfahren der Hauptserie einerseits und der L.-Serie andererseits nur ein - für alle Verfahren der jeweiligen Kammer einheitliches - schriftliches Gutachten desselben Sachverständigen eingeholt wurde.

Die 14. Zivilkammer bestimmte als Pilotverfahren der Hauptserie das Verfahren zum Aktenzeichen 14 (2) O 2179/07 und als Pilotverfahren der L.-Serie das Verfahren zum Aktenzeichen 14 (2) O 1135/11. Die 2. Zivilkammer designierte das Verfahren zum Aktenzeichen 2 O 1802/07 zum Pilotverfahren der Hauptserie und zum Pilotverfahren der L.-Serie das Verfahren zum Aktenzeichen 2 O 1136/11.

Alle gegenständlichen Ausgangsverfahren sowohl der 2. Zivilkammer (2 O 322/07, 2 O 644/07) als auch der später zuständigen 14. Zivilkammer (14 (2) O 303/07, 14 (2) O 623/07, 14 (2) O 675/07, 14 (2) O 677/07, 14 (2) O 775/07, 14 (2) O 855/07, 14 (2) O 1095/07) sind der vorgenannten Hauptserie zuzuordnen. Sie endeten um den Jahreswechsel 2019/2020 nach Klagrücknahmen, nachdem sie zuvor zwecks gemeinsamer Einholung eines Sachverständigengutachtens jeweils zu den genannten Pilotverfahren der 2. Zivilkammer (2 O 1802/07) bzw. der 14. Zivilkammer (14 (2) O 2179/07) hinzuverbunden worden waren.

In sämtlichen Ausgangsverfahren wurde der Kläger des Entschädigungsverfahrens als Beklagter zu 2) neben dem weiteren Beklagten S. gesamtschuldnerisch in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Konzeptant von Beteiligungsmodellen der "G. Gruppe" in Anspruch genommen. Gegen den Beklagten S. waren jeweils zuvor Mahnverfahren über wesentliche Teilbeträge der späteren Klageforderungen betrieben worden.

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